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Ich veröffentliche regelmäßig im General-Anzeiger Bonn, bei der Nachrichtenagentur epd und diversen anderen Medien. Und zwar über lokale Bonner Themen und generell über Soziales, Bildung, Erziehung, Kultur, Religion - und alles, was spannend ist.
Rezension: "Verkin" von David Wagner (2024)
"... Alle diese Titel sind aus dem Wagner eigenen autobiografisch-fiktionalen Schreiben entstanden. Alle haben viel mit seinem Leben zu tun. Mit „Verkin“ bringt er es nun mit seiner Art von Autofiktion zur Meisterschaft. Einen ganzen Roman lang bindet die schillernde Hauptfigur einen großen Strauß an plastisch geschilderten Geschichten: etwa vom Genozid an den Armeniern durch die Türken 1915/1916, den Mitglieder von Verkins Familie nur mit Glück überlebten. Von einer bunten Kindheit am Bosporus, von Schweizer Internatsjahren, von all dem, was die Unternehmerstochter im Paris der 1960er Jahre, im geteilten Berlin oder in New Yorks Künstlerkreisen gesehen haben will..." Foto: Linda Rosa Saal
https://ga.de/news/kultur-und-medien/ueberregional/lesung-in-bonn-david-wagners-beeindruckender-roman-verkin_aid-119376447
Erschienen am 28. September 2024 im General-Anzeiger Bonn, Journal
Rezension: "Das Wohlbefinden" von Ulla Lenze (2024)
„... Lenzes Neuling ist ein großer Wurf. Kunstvoll verwoben sind drei Zeit- und Handlungsebenen: vom sich ankündigenden Ende des Deutschen Kaiserreichs über die studentenbewegten 1960er bis in die Lockout-Phasen der Corona-Pandemie. „Eine tolle, empfindungsintensive Prosa“ schreibe Lenze, sagt ihr Kollege David Wagner: Ihre Sprache sei „echt und wahr und ehrlich“. Im neuen Roman wird Lenze dem wieder gerecht..."
Erschienen am 13. September 2024 im General-Anzeiger Bonn, Journal
"Zeugen für Christus": Auch diese Bonner wurden Nazi-Opfer
"... Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte Heinrich Körner (1892-1945) sein Amt als Geschäftsführer des Gesamtverbands der Christlichen Gewerkschaften in Westdeutschland verloren... In den 1930er Jahren musste sich der Neu-Bonner jeden Samstag bei der Polizei melden, weil er sich weigerte, die Hakenkreuzfahne zu flaggen und der NSDAP beizutreten. Auf dem Papier arbeitete der überzeugte Katholik jetzt als Handelsvertreter. Seine Reisen nutzte er aber, um seine Kontakte im Widerstand gegen das Unrechtsregime zu erweitern. Das Haus an der Reuterstraße diente ohnehin als heimlicher Treffpunkt der Opposition etwa um Carl Friedrich Goerdeler, der im Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet werden sollte. Körner sollte (nach zahlreichen Inhaftierungen und dann Folterungen im KZ Ravensbrück) ebenfalls in Plötzensee den Tod finden, und zwar am 25. April 1945: Eine SS-Kugel traf auch Körner..."
Erschienen am 19. Juli 2024 im General-Anzeiger Bonn
Kunst im öffentlichen Raum aus den 1970er Jahren in Bonn
"... Und tatsächlich: Wer über den älteren Teil des Heiderhofs spaziert, kann auf einigen der einst kunstvoll gestalteten Plätze fast magische Eindrücke sammeln. Der Erhaltungszustand wiederum entpuppt sich als unterschiedlich, aber keineswegs dramatisch. Da schlängelt sich etwa um eine Grünfläche am Kastanienweg auf den zweiten Blick plötzlich ein riesiger steinerner Drache aus geometrischen Formen und ineinander geschachtelten Kuben. Mit seinem großen Auge und den eckigen Zähnen züngelt der Lindwurm inzwischen mit dunkelgrüner Patina auf den Schuppen. Der von Regen gezeichnete Beton hat Moos angesetzt. Das Gesamtensemble mit in die Struktur eingepassten, teilweise rissigen Platten ist in die Jahre gekommen. Die beginnende Zerstörung dieser öffentlichen Kunstwerke müsse aufgehalten werden, sagen Experten..."
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/kunstwerke-am-heiderhof-was-hat-es-damit-auf-sich_aid-116471773
Erschienen am 19. Juli 2024 im General-Anzeiger Bonn
Rezension: Stefanie de Velasco, "Das Gras auf unserer Seite"
"Da hat die Autorin zweifellos recht: Romane über Frauen in mittleren Jahren (zumal über solche, die bewusst keine Kinder bekommen) – die schreibt kaum jemand. Stefanie de Velasco („Tigermilch, 2013, „Kein Teil der Welt“, 2019), die mit dem Literaturstipendium des Vereins Lese-Kultur Godesberg im letzten Jahr Bonner Stadtschreiberin war, ist selbst Mitte 40 und hat’s getan: Sie hat drei Frauen in den Fokus ihres neuen Romans „Das Gras auf unserer Seite“ gestellt, die schon scharf auf die 50 zugehen, immer noch keine Lust auf gängige Lebensmuster haben und das altbekannte Sprichwort „Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner“ beherzt auf den Kopf stellen. Ist das Gras auf ihrer Seite nicht viel saftiger? ..." Foto: Joachim Gern
Erschienen am 21. Juni 2024 im General-Anzeiger Bonn
Cartoons: Constanze Elbel postet jeden Tag "Lieblingsdinger"
"„Meine Lieblingsdinger?“ Die Friesdorferin Konstanze Ebel, die seit vier Jahren unter dem Namen „Dichtungsding“ fast täglich ihre Cartoons, Reime und Zeichnungen auf Instagram postet, zögert mit der Antwort. „Lieblingscartoons zu nennen, das ist bei mittlerweile fast 1.000 Stück echt schwer“, seufzt die Kunsthistorikerin, die schon für die Berliner Berhard-Heiliger-Stiftung arbeitete. Anfangs hatte sie pandemiebedingte Themen mit flottem Strich und humorvollen Reimen auf den Punkt gebracht. Inzwischen sind die Themen weiter und die Klickzahlen, Lacher, Glückwünsche und zustimmenden Kommentare aus Flensburg bis aus dem tiefsten Bayern ständig angewachsen..."
Erschienen am 16. Mai 2024 im General-Anzeiger Bonn
Rudolf Schorlemmer: Der Doktor und seine 5000 Hühner
"Den Godesberg-Kennern ist er ein Begriff, der Arzt Rudolf Schorlemmer (1874-1936). Verhalf er doch der einst selbstständigen Stadt durch seine stattliche Sanatoriumszeile an der Rheinallee gut zwei Jahrzehnte lang zu internationalem Ruf. Aber dass der renommierte Spezialist für Magen- und Darmkrankheiten parallel dazu eine riesige Geflügelfarm im heutigen Wachtberg betrieb, das dürften die meisten dann doch für einen Witz halten. Ist es aber nicht. Denn während Schorlemmer in der Kurstadt Jahr für Jahr mehr zahlungskräftige Erkrankte aus aller Welt in seinen exquisiten Häusern behandelte, versuchte er sich nebenbei auf dem Pecher Huppenberg als Herr über Legehühner, Enten, Karpfen und Forellen...". Foto: Godesberger Heimatverein
https://ga.de/region/der-herr-doktor-und-seine-5000-huehner_aid-109009033
Erschienen am 24. März 2024 im General-Anzeiger Bonn
Völkermord: Wie Lothar von Trotha in Bonn gefeiert wurde
"Zu dem älteren Herrn, der da seit Mitte 1906 im vormaligen herrschaftlichen Haus Rheinallee 1 residierte, blickten die Godesberger auf. Welch eine Ehre, dass „der ruhmreiche Führer der Deutschen in dem südwestafrikanischen Kampf, seine Exzellenz Generalleutnant von Trotha“, wie er auf örtlichen Veranstaltungen eingeführt wurde, mitten unter ihnen lebte. Gemeint ist Lothar von Trotha (1848-1920), der bis 1909 gut drei Jahre und dann noch einmal (zwischen 1913 und 1918) fünf Jahre Godesberger war. ... Etwa bei nationalliberalen Wählerveranstaltungen 1909 im Godesberger Kurpark erntete der Mann, der 1910 vom deutschen Kaiser sogar noch zum General befördert werden sollte, als „erste Autorität für die südwestafrikanische Frage“ nur „stürmische Beifallsspenden“. Da hatte er wieder einmal seinen blutigen Vernichtungskrieg gegen afrikanische Völker von 1904 vollmundig als „notwendiges Übel“ verharmlost..."
Foto: Godesberger Heimatverein /Universitätsbibliothek Frankfurt
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/voelkermord-an-herero-und-nama-lothar-von-trotha-lebte-in-bonn_aid-108367867
Erschienen am 14. März 2024 im General-Anzeiger Bonn
Rezension: "Risse" von Angelika Klüssendorf (2023)
"Das unscharfe Foto auf dem Titel des neusten Romans „Risse“ von Angelika Klüssendorf zeigt das Portrait eines schmalen Mädchens. Der Mund versucht ein Lächeln, „von dem ich annahm, es gehöre auf ein Foto“, erläutert das Erzählerinnen-Ich der aus Ostdeutschland stammenden Autorin. Doch in den verhangenen Augen der Kleinen schimmert unübersehbar das Leid ihrer von Gewalt gezeichneten Kindheit. Ein Riss scheint durch dieses verwackelte Portraitfoto zu gehen. Heute sehe sie „Freude und Erwartung des Sommers“ in den Zügen des Kindes, aber gleichzeitig auch dessen Vorahnung, jedem „scheinbar verlässlichen Augenblick nicht zu trauen“, erläutert die Erzählerin. Und dem Leser ist anhand der Ähnlichkeit klar: Dieses so zwiespältig stimmende Foto zeigt die Autorin selbst, als sie Kind war. Wieviel Angelika Klüssendorf selbst steckt also in dem Buch?..."
https://ga.de/news/kultur-und-medien/ueberregional/ein-lesenswertes-buch-angelika-kluessendorfs-roman-risse_aid-104923429
Erschienen am 13. Januar 2024 im General-Anzeiger Bonn
Holocaust: Überleben in der Höhle des Löwen
„Ich fürchtete ständig, entdeckt zu werden. Aber ich dachte, dass man in der Höhle des Löwen am sichersten sei, wenn man nicht auffallen wollte."
Wie zwei jüdische Verfolgte den Nazi-Terror und Holocaust in Dachkammern in Bonn-Bad Godesberg überlebten: Richard Schreiber versteckte sich à la Anne Frank. Hanny Hertz nahm todesmutig am Alltag teil. Ihrer und ihrer mutigen Lebensretter (wie Heinrich Meffert, siehe Foto) gedacht wird bislang an keiner Stelle.
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/wie-zwei-juden-die-nazizeit-in-bonn-ueberlebten_aid-102506557
Erschienen am 28. Dezember 2023 im General-Anzeigers Bonn
Maria Callas: Zum 100-Jährigen der Star-Sopranistin
Tod einer Jahrhundertsängerin
Zum 100-Jährigen der großen Sopranistin Maria Callas
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Die ungeschminkte Frau im Nerzmantel, die da im Herbst 1976, mit einer Plastiktüte in der Hand, durch das Gittertor der Pariser Avenue George Mandel 36 huscht, macht nicht gerade den Eindruck, die Top-Sopranistin des 20. Jahrhunderts zu sein. Doch die Paparazzi haben die damals 53-jährigen Maria Callas (1923-1977) auch in nachlässigem Aufzug erkannt und Bilder von der Verschreckten geschossen. Noch kurz zuvor hat sich der Star, der über Jahre die Bühnen der Welt beherrschte, im Nobel-Restaurant Maxim`s strahlend dem Blitzlichtgewitter der Fotografen gestellt: elegant und professionell bis ins Detail.
Es scheint zwei Personen zu geben: die unsichere, ehemals bettelarme Aufsteigerin, die aus den USA nach Europa eingewandert war und sich als hässliches Entlein fühlt, und der makellose Schwan, die strahlende Callas, die Perfektionistin, die von Millionen angebetet wird.
Auf diesem Widerspruch, dem Riss, der sich durch das Leben der griechischstämmigen Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulou zieht, baut die bekannte Biographin Eva Gesine Baur („Chopin“, 2010, „Mozart“, 2015, „Marlene Dietrich“, 2017) ihren neusten Roman über Maria Callas auf. Baur schildert einmal die auch noch als reife Frau seltsam einfältige und verletzliche Maria, die sich auch in luxuriösen Appartements mit glitzerndem Tand umgibt und sich der Liebe ihres Lebens, dem millionenschweren Geschäftsmann Aristoteles Onassis, gegenüber unterwürfig bis zur Selbstaufgabe zeigt.
Und da kann diese Frau als „die Callas“ in ihrer Kunst sofort umschalten und zur rücksichtlos ehrgeizigen, ja überheblichen Jahrhundertsängerin mutieren. Die, als sie Anlauf zu ihrer Traumkarriere nahm, auch nicht davor zurückschreckte, ihre von Kritikern geschmähten überschüssigen Pfunde mit radikalem Medikamentenmissbrauch abzuwerfen.
Wenn diese Maria wie etwa in der Szene vom Herbst 1976, von Paparazzi gehetzt, ins einsame Heim in der Pariser Nobelstraße zurückkehrt, dann kritzelt die „Primadonna assoluta“ des 20. Jahrhunderts verzweifelte Notizen auf Zettel wie, „dass ich am Ende meines Lebens keine Freude, keine Freunde, nur Drogen haben werde.“ In der Pariser Luxuswohnung, „in der ihr alles gehörte, doch kaum etwas gehörte zu ihr“, befinden sich, so wird man es nach ihrem Tod vorfinden, allein vierzig Nerzmäntel, 250 Kaschmirpullover, Hunderte von Taschen, teils noch mit Preisschildern dran, und eine museumsreife Sammlung von Haute-Couture-Abendroben nebst Samthandschuhen, schreibt die Biographin.
Und überall hängen „die Fetische der Angsterfüllten“: Talismane, Glücksbringer, ein Rosenkranz mit Kruzifix. Denn über allem steht bei dieser alternden Maria schließlich eine Klage: „Seit ich meine Stimme verloren habe, will ich sterben.“ Denn „ohne meine Stimme bin ich nichts.“ Da hat sie Bühnenauftritte abbrechen müssen und nicht mehr lange zu leben.
Bemitleidenswerte Szenen wie diese kontert die Biographin gekonnt mit Blitzlichtern der Zeiten, als eben die schließlich überstrapazierte Stimme noch glänzte. Baur erzählt etwa, wie die Callas im Februar 1974 bei der Neuproduktion von Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in der Mailänder Scala auf den ebenfalls berühmten Dirigenten Herbert von Karajan traf, als ihre Stimme brannte, leuchtete und erlosch und sie imstande war, „vom Kopf her jedes Körperglied bis in die Fingerspitzen und Zehen mit Spannung zu laden und dann loszulassen“. Diese Starsängerin hatte die Intuition für das Tragische einfach in sich. Auch ein Maestro wie Karajan habe da nur kapitulieren können und gar nicht erst versucht, selbst Regie zu führen.
Nur leider hatte offenbar auch die private Maria Callas das Tragische einfach in sich: Die Autorin begleitet diese Maria, die in ihrem Beruf knallhart von Willen, Intelligenz, Disziplin und Arbeitswut gesteuert ist, auch über alle Phasen ihres verkorksten Liebes- und Familienlebens, das interessanterweise auch eine Episode mit dem legendären italienischen Regisseur Pier Paolo Pasolini enthält. Bis die Diva eben erfahren muss, dass die glamouröse amerikanische Präsidentenwitwe Jackie Kennedy ihr den so begehrten Partner Onassis vor der Nase wegschnappen wird. Alle seien 1968 völlig berauscht gewesen von der Sensationsmeldung: „Die jugendliche Königin von Amerika und der alte griechische Bandit“, nur eben die liebeshungrige Maria Callas nicht. Die dürfte es nun auch wenig getröstet haben, dass Schauspielstars wie Richard Burton ihr an den Treffpunkten des damaligen Jetsets ins Ohr geflüstert hätten, was für “ein Dreckskerl“ dieser Onassis sei.
Sie habe „eine archäologische Arbeit“ leisten wollen, ihr Ziel sei gewesen, „die eigentliche Callas auszugraben“, schreibt die Biographin in ihrem Vorwort. Und auf den mit vielen Nachweisen sorgfältig recherchierten, aber durchaus auch süffig geschriebenen gut 500 Seiten und den hinzugegebenen eindrucksvollen Fotos wird durchaus deutlich, warum der Staregisseur Franco Zefirelli 1953 konstatierte: „Die Welt der Oper hatte sich verändert. Es gab nun so etwas wie eine neue Zeitrechnung“, nämlich vor der Callas und nach der Callas. Das Buch macht auf jeden Fall auch Lust, wieder einmal in die überlieferten Aufnahmen von Arien hineinzuhören: und mit Staunen zu erleben, wie dieser unverwechselbare Sopran heute noch umwirft.
Im Handel erhältlich: Eva Gesine Baur, Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie, Verlag C. H. Beck, München 2022, 507 Seiten, einige Abbildungen, 29,90 Euro.
Erschienen am 20. Mai 2023 im Journal des General-Anzeigers Bonn
Holocaust: Die Godesberger Lesers retteten ihr nacktes Leben
Bonn. Mit den Novemberpogromen 1938 begann deutschlandweit die systematische Vertreibung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Gerade aktuell dürfte das Gedenken daran angesichts offen antisemitischer Aufmärsche und brandgefährlicher rechtsextremer Hasspropaganda zu einer äußerst schmerzlichen Mahnung werden. Denn als am 10. November 1938 am helllichten Tag zusammengetrommelte Nazis auch in Bad Godesberg und Mehlem die Synagogen niederbrannten und jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstörten, wussten diejenigen jüdischen Mitbürger, die vorher fliehen konnten, dass sie damit ihr Leben gerettet hatten.
Wie etwa die Familie Leser aus der Plittersdorfer Villa Cahn, die in der Ferne erfuhr, wie zu Hause ab diesem 10. November 1938 die ebenfalls durch Rassenhass aufgehetzten Godesberger ihre letzten jüdischen Mitbürger erst in sogenannte Judenhäuser, dann ins ehemalige Endenicher Kloster und von dort in die Todeslager im Osten verschleppen ließen. (...)
Der Beitrag ist erschienen am 10. November 2023 im General-Anzeiger Bonn.
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/stolperstein-in-bad-godesberg-fuer-familie-leser-sie-retteten-ihr-nacktes-leben_aid-101032039
Alain Claude Sulzer: Die erstaunlichen Brüder de Goncourt
Alain Claude Sulzer zeichnet mit seinem Roman „Doppelleben“ ein brillantes Sittengemälde des Paris Mitte des 19. Jahrhunderts
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Es ist diese prickelnde Exzentrik, mit der die Protagnisten im neusten Roman „Doppelleben“ von Alain Claude Sulzer selbst ihr häusliches Froschschenkelessen zum auch sprachlichen Event machen. Edmond de Goncourt (1822-1896) und sein hochsensibler Bruder Jules (1830-1870), das berühmte, in Symbiose lebende Brüderpaar der Pariser High Society in der Mitte des 19. Jahrhunderts, sitzen bei Tisch. Mit den von Fett glänzenden Fingern legen sie, sich gegenseitig kommentierend, all die Knöchelchen der leicht mit Zitrone, Knoblauch, Schalotte und Petersilie gewürzten Schenkelchen auf silberne Schalen. Zuvor haben sie sie genüsslich zart mit Lippen, Zunge, Gaumen und Zähnen erspürt und vom Fleisch getrennt. Das erinnere sie daran, scherzen sie, wenn die Haushälterin nicht im Raum ist, wie ihre gemeinsame Geliebte die Brüder zu befriedigen pflege.
Die beiden schriftstellernden de Goncourts fühlen sich, so Sulzer, stark als „Dichter! Erkunder! Wörtersucher!“, als hellwache „Erkenner … der freimütigsten, farbigsten, treffendsten, wahrsten Formulierung für jedes Ding, jede Regung.“ Daraus haben sie eine ganze Reihe Romane geformt. Aber der Nachwelt sind sie eigentlich nur durch den gleichnamigen renommierten Literaturpreis Frankreichs bekannt geblieben. Und durch ihr ab 1851 verfasstes Tagebuch: satte 7.000 Seiten Zeitdokument und Lesespaß in Einem, voll mit Klatsch, sarkastischem Witz und Reflexionen zweier Männer, die mit Leidenschaft ihre Zeit und die sogenannte feine Gesellschaft und die Künstlerclique im Paris nach Kaiser Napoleon sezierten.
Der Schweizer Schriftsteller und Übersetzer Sulzer, Jahrgang 1953, war 2015 von der Neuen Züricher Zeitung genau auf eine Übersetzung dieser Tagebücher angesetzt worden. In seiner Rezension begeisterte er sich sofort dafür, wie brillant die für ihre Zeitgenossen berüchtigten Klatschkolumnisten ihre Epoche quasi mit dem Röntgenblick ausleuchteten. Und Sulzer leckte Blut: Im Roman macht er sich auf, das zwillingshafte Leben der Brüder selbst auf den Seziertisch zu legen, sie von außen zu betrachten. Und zwar in ihren gemeinsamen letzten Jahren, bis der totkranke Jules de Goncourt dem älteren Edmond 1870 sozusagen unter den Händen wegstirbt.
Dass der Jüngere, Stürmischere im Roman Kapitel um Kapitel elend dahinsiecht, erst die Treffsicherheit der Sprache, dann die Artikulationsfähigkeit, bald auch die Einordnungskraft für seine Umwelt verliert und sogar Edward irgendwann nicht mehr erkennt, zeichnet Sulzer in der ganzen Tragik nach. Für Edward wäre „nichts schlimmer und einschneidender“, als den Bruder zu verlieren, der sich nur noch „im leeren Raum“ wähnt und verstummt. Das turbulente „Doppelleben" der Brüder wird enden. Doch der Ältere wird nicht zulassen, dass der Grund für das leidvolle Sterben verbalisiert wird: die Syphilis, die der Jüngere sich mit 20 Jahren bei Prostituierten eingefangen hat. Edwards Sprachregelung heißt: Der Bruder sei „an Überanstrengung im Dienst der Kunst gestorben“. Jules, der Begabtere, habe sein Leben „für die Literatur, für das richtige Wort, für die Wahrheit auf dem Papier“ gegeben.
Eine erstaunliche Verweigerung der Realität leisten sich die ansonsten so scharfsinnigen Brüder auch in Bezug auf die dritte Protagonistin im Buch. Denn Sulzer erzählt einen zweiten Roman im Roman, ein zweites Doppelleben direkt im Haushalt der de Goncourts. Er kontert also das langsame Sterben des vermögenden Jules mit dem Scheitern von Rose, einer einfachen Frau, die seit Jahrzehnten wie ein Schattenwesen unbeachtet den Haushalt der Familie schmeißt. Diese mütterliche Freundin der Brüder, die einzige Frau, die sich wirklich um die beiden eingefleischten Junggesellen kümmert, geht, völlig unbemerkt von ihnen, Schritt für Schritt zugrunde. Sie verliebt sich hoffnungslos in einen Mann, der sie schamlos ausnutzt. Ohne, dass die Brüder genauer hinschauen und hinhören, gebiert sie ein Kind und verliert es auf tragische Weise. Sie flüchtet sich in Alkohol und schnelle Affären, bestiehlt irgendwann auch ihre Arbeitgeber und stirbt qualvoll, ohne dass die Brüder irgendetwas verstehen.
Als sie die Wahrheit gesteckt bekommen, ist ihre Betroffenheit groß, wie Sulzer meisterlich erzählt. Die beiden werden nach dem ersten Schock, nach erster Abscheu für die Niederungen dieses traurigen Lebens, über ihre Rose schreiben. Oder sollte man sagen: Sie werden die so unterwürfige, einfache Frau, die in der Gesellschaft ihrer Zeit keine Chance hatte, noch ein letztes Mal benutzen? „Germinie Lacerteux“ heißt der Roman, den die Brüder 1865 herausgegeben haben. Die Haushälterin Rose ist zur Romanheldin geworden – und die Zeitgenossen haben das Werk sofort als moralisch schamlos zerfetzt. Eigentlich nur der selbst naturalistisch schreibende Schriftstellerkollege Émile Zola hat sich für das Buch begeistert. Weil es den Lebensweg armer Leute seiner Zeit einmal nicht wie ansonsten die zeitgenössische Literatur beschönigte.
Sulzer hat damit nicht nur Edmond und Jules de Goncourt, die, wie die Romanistik meint, letztlich berühmtesten Unbekannten der französischen Literatur, mit dichter, sinnlicher Sprache wieder zum Leben erweckt. Er hat im Kontrast dazu auch den Menschen ein Denkmal gesetzt, die fast ohne Rechte in den Großstädten des 19. Jahrhunderts strandeten und vor die Hunde gingen: unbemerkt von ihren aus heutiger Sicht gefühllosen und arroganten Arbeitgebern. Ein pralles Leseerlebnis, dieses Sittengemälde des 19. Jahrhunderts.
Im Handel erhältlich: Alain Claude Sulzer, Doppelleben. Galiani 2022, 23 Euro.
Die Rezension ist erschienen am 5. August 2023 in General-Anzeiger Bonn, Journal.
Geschichten am Grab: Die Serie im General-Anzeiger Bonn
Zu Lebzeiten waren sie hochgeschätzt, ja verehrt, manche auch gefürchtet. Auf jeden Fall waren sie prominent. Sie lebten zuletzt in Bonn-Bad Godesberg und wurden hier bestattet.
Doch wer kennt diese Personen heute noch? Wer erinnert sich an ihr Leben? Und vor allem: Wie wird ihr Wirken heute gesehen?
Wir laden ein zum Spaziergang auf lokalen Friedhöfen. Und zu Gräbern einer Reihe von Godesberger Promis.
Bislang erinnerten wir an die Politiker Herbert Wehner, Kai-Uwe von Hassel, Rainer Barzel, Erich Mende, Hans Globke, Otto Lenz und Wolfgang Clement, an den "Vater der Bundeswehr" Ulrich de Maizière, die Topjournalisten Walter Henkels und Don F. Jordan, die Pfarrer Julius Axenfeld, Friedrich Bleek, Klaus Lohmann und Werner Ehlert, die Schauspieler Paul Kemp und Heide Keller, die Bürgermeister Heinrich Hopmann und Josef Zander, Godesbergs Idol Aennchen Schumacher, die Kulturförderer Karl von der Heydt und Ferdinande Boxberger sowie an SS-Obergruppenführer Wilhelm Koppe.
Die vielgelesene Serie erscheint im Frühjahr 2024 in Buchform.
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/der-wortgewaltige-onkel-herbert_aid-79739121
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/innig-verbunden-auch-im-tode_aid-80354639
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/ein-elder-statesman-der-bonner-republik_aid-86644805
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bonn-erinnerung-an-den-schauspieler-paul-kemp_aid-83809413
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/er-holte-das-hakenkreuz-von-der-godesburg_aid-87991765
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bonn-das-war-aennchen-schumacher-in-bad-godesberg_aid-91432791
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/ein-elder-statesman-der-bonner-republik_aid-86644805
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/er-war-kurier-der-bekennenden-kirche_aid-89899835
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/die-nazis-pruegelten-ihn-aus-der-kirche_aid-90773947
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/wie-otto-lenz-die-junge-republik-praegte_aid-92961625
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bad-godesberg-pfarrer-werner-ehlert-leistete-widerstand-gegen-die-nazis_aid-94873553
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bonn-die-bad-godesberger-literaturfoerderin_aid-96482565
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/wolfgang-clement-grab-in-bad-godesberg_aid-97705489
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bonn-heide-keller-vom-traumschiff-in-muffendorf-begraben_aid-99196991
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bad-godesberg-am-grab-von-walter-henkels-journalist-und-autor_aid-100825815
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/don-f-jordan-war-fuer-die-deutschen-ein-amerika-erklaerer_aid-101887219
Finnische Literatur: Flügel für eine geschundene Seele
Eeva-Liisa Manner hat in den 1950er Jahren die Moderne in die finnische Literatur gebracht. Jetzt erscheint ihr Erstlingsroman endlich auf Deutsch. Verleger und Übersetzer stellen ihn am 11. Februar in Bonn vor
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Schneeweiß auf zartblauem Grund leuchten die Blüten des Wiesenkerbels auf dem Cover des nun erstmals auf Deutsch erschienenen Romans „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“. Während die neunjährige Romanheldin Leena durch ihre so seltsam anmutende finnische Heimatstadt läuft, drängen sich auf ihren Wegen wie der Kerbel auch Thymian und Sauerampfer zwischen den Steinen hervor. Meer und Himmel scheinen sich für das Mädchen auf dieser ihrer „Märchenstraße“ längst, wie auf dem Buchcover, zu einem strahlenden Blau zu vereinen. Und „in der Straße endete die Welt, diese Straße war eine Himmelsbrücke“, wie es der Buchtitel ankündigt. „Alles, was in einem Märchen war, war in dieser Straße möglich“, schreibt die Autorin Eeva-Liisa Manner: die Befreiung von der Trauer des Kindes über den Verlust seiner Eltern, von seinen Ängsten und vom „zersetzenden Grauen“ eines unbarmherzig durchgetakteten Schulalltags.
Die Finnin Eeva-Liisa Manner (1921–1995) hatte ihre Schriftstellerkarriere eigentlich 1944 als Lyrikerin begonnen. 1956 sollte sie die finnische Literatur in diesem Genre mit dem Gedichtband „Die Reise“ in die Moderne katapultieren. 1951 war ihr das mit ihrem ersten Roman über die kleine Leena auf der Himmelsbrücke schon in der Prosa gelungen. Finnisch ist zugegebenermaßen eine der für die anderen Sprachfamilien fremdesten Sprachen, die weltweit vergleichsweise wenige Menschen beherrschen. So hat es also über 70 Jahre gedauert, bis mit dem auf die Entdeckung ost- und nordeuropäischer Klassiker für das deutsche Publikum spezialisierten kleinen Berliner Guggolz Verlag endlich ein Unternehmen riskierte, den in Finnland so erfolgreichen Roman ins Deutsche übersetzen zu lassen. Und zwar von dem mit mehreren Sprachstipendien ausgestatteten Münchener Literaturwissenschaftler Maximilian Murmann: Er hat den Text auch im Deutschen sprachlich zum Leuchten gebracht.
Die Heimatstadt der kleinen Traumtänzerin Leena scheint das heute russische Wyborg in der karelischen Ostsee-Küstenregion bei St. Petersburg zu sein. Es war bis 1939 das finnische Viipuri. Hier hatte, bis die Sowjetsoldaten den Ort einnahmen, auch die Buchautorin Manner ihre Jugend verbracht – und sich danach zeit ihres Lebens nach dem Kindheitsort, den sie nie wieder betreten konnte, zurückgesehnt. Auch die Motive, dass der kleinen Romanheldin die Mutter schon kurz nach der Geburt verstirbt, der Vater die Tochter verlässt und sie bei der frömmelnden Großmutter aufwächst, sind durchaus autobiografisch.
Leena, die kleine Philosophin im Buch, scheint die Stadt auch für ihre Buchautorin wieder und wieder zu durchstreifen: all die säuberlich wie mit Zirkel und Lineal gezogenen Verkehrswege mit den Straßenbahnen, die wie gelb angestrichene Sardinenbüchsen wirken, und vorbei an den verwitterten, bedrückt zur Seite geneigten Häusern. Auch diese Leena wird, das kündigt sich in den immer surrealer werdenden melancholischen Romansequenzen an, das bis auf sein potthässliches Schulgebäude bildschöne Viipuri und die karelische Ostsee bald schmerzlich verlieren.
Bis dahin lässt Eeva-Liisa Manner ihre Hauptfigur aber noch eine regelrecht magisch wahrgenommene Kindheitswelt erleben: mit Jesus ähnelnden Ärzten und der Gottesmutter verwandten mütterlichen Engeln. Mit himmlische Bach-Fugen spielenden, blinden Kirchenorganisten und Menschen ähnelnden Vögeln. Dagegen lernt die letztlich nur auf sich selbst gestellte Waise Leena den militärischen Drill der Furcht einflößenden Lehrerin Tag für Tag mehr hassen. Wie kleine Soldaten müssen die Schülerinnen ins Klassenzimmer einmarschieren. Und für die unsensible Pädagogin ist der Neuling Leena, der sich sogar selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat, einfach nur ein lästiger Fremdkörper im Gefüge. Als besorgniserregend faul und starrsinnig beschimpft die Lehrerin die Neunjährige. Doch die lässt das entsprechende Beschwerdeschreiben an die Großmutter irgendwann einfach nur als Papierschiffchen den Fluss hinuntersegeln.
Denn Leena beschäftigt sich längst mit anderen Fragen: Worüber weint eigentlich der Regen, das ist noch eine harmlose Variante. Ist es wahr, was die sogenannte Wirklichkeit zeigt, oder nicht eher das, was im Traum passiert? Das ist die schon elementarere Fortsetzung. Und kann man, wenn man die Himmelsbrücke ins Land ohne quälende Lehrerinnen und überlastete Großmütter überschritten hat, aus dem Märchen auch wieder herausfallen? Die Romanheldin hat inzwischen den unvergleichlichen Zauber der Musik für sich entdeckt. Die verleiht ihr „Flügel für eine geschundene Seele“, genauso wie der seidene lila Regenschirm, den ihr der Lieblingsonkel auf Kurzbesuch mitgebracht hat.
Nur ein Kind oder höchstens noch der trunkene alte Organist im Buch kann noch so spielerisch die Sphären des Realen und der Phantasie, des Diesseits und Jenseits überbrücken. Nur sie sind überhaupt imstande, die existenzielle Heimatlosigkeit, die seit Eeva-Liisa Manner auch im modernen finnischen Roman Einzug gehalten hat, glaubwürdig zu spiegeln. „Die autoritäre, hierarchische, religiöse Ordnung erscheint demgegenüber nicht nur als Zwang, sondern als völlig unzureichend, um den Reichtum an Erfahrungen zu erfassen, die auch ein neunjähriges Kind machen kann“, schreibt die Schriftstellerin Antje Ravik Strubel im Nachwort des Romans. Nur ein Kind oder der alte Trinker kann den knallharten Regeln das Spielerische, die Leichtigkeit, ja auch das Groteske des Lebens entgegensetzen und bewusst auch das einbeziehen, was außerhalb des Sichtbaren liege.
Das erreiche Manner, die von Strubel als eine der großen Dichterinnen der europäischen Moderne eingeschätzt wird, durch ihr kompromisslos radikal subjektives Erzählen. Und durch eine glasklare, aber auch wunderbar bildreiche Sprache, möchte man hinzufügen. Wie gut, dass der Guggolz Verlag es nun sieben Jahrzehnte nach Erscheinen des Romans im Original riskiert hat, uns „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ endlich in deutscher Sprache zu eröffnen.
Im Handel erhältlich: Eeva-Liisa Manner, Das Mädchen auf der Himmelsbrücke, Guggolz Verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-9453-7036-0,180 Seiten, 22 Euro.
Der Termin: Am Samstag, 11. Februar, stellen ab 17 Uhr in der Parkbuchhandlung, Am Michaelshof 4b, der Verleger Sebastian Guggolz und der Übersetzer Maximilian Murmann Eeva-Liisa Manners Romanerstling in deutscher Sprache vor. Karten unter Telefon: 0228 – 35 21 91, E-Mail: [email protected]
Erschienen am 5. Februar 2023 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Mechthilde Lichnowsky: Gegen alle "wirrlöpfigen Schwätzer"
Leider vergessen: Mechtilde Lichnowsky war eine brillante Schrift-stellerin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Neuausgabe ihrer Werke von 2022 ist schon vergriffen
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Diese Abrechnung mit Adolf Hitler und seiner hysterischen Anhängerschaft konnte 1942 natürlich nicht in Deutschland als Buch erscheinen. „Werdegang eines Wirrkopfs“ hieß der großartige Text, den die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky (1879–1958) mitten im Zweiten Weltkrieg im Exil in Südfrankreich geschrieben hatte. Darin sezierte sie scharfzüngig den NS-Sprachgebrauch und hier besonders den des, wie sie schrieb, an sich primitiven, nichtsnutzigen und „wirrköpfigen Schwätzers“ in seiner Schrift „Mein Kampf“. Letztlich habe der brüllende Einpeitscher gar nichts zu sagen, er sei noch nicht einmal ein Beobachter der Lage, „sondern ein Glotzender“, urteilte die damals 63-jährige heimliche Regimekritikerin. Kein Wunder also, dass sie mit ihren Schriften unter den Nazis ohne Verlag blieb.
1948 konnte das Buch endlich erscheinen. Doch da, nur drei Jahre nach dem Ende des sogenannten Dritten Reichs, versetzte dieser Klartext über den Verführer, „dessen Name niemals über meine Lippen kommt“, so Lichnowsky, die bundesdeutsche Bücherwelt erst einmal in peinliche Verlegenheit. Hielt die Frau, die inzwischen von London aus schrieb, doch auch vielen Berufskollegen den Spiegel vor die Nase. Hatten nicht auch zahlreiche von ihnen den Aufstieg des „elenden Wirrkopfs“ zumindest gebilligt, wenn nicht mit „willigen Ohren“ sogar begrüßt? Hatten nicht auch all die „Faulpelze“ und „Legionen von Weibern“, die nicht selbst hätten denken wollen, diesem alptraumhaften „Nichtsnutz unter Wichten“ in ihrer „Lüsternheit nach sensationellen Ereignissen“ Lob gehudelt?
Freunde, sprich Leser machte man sich 1948 mit einer so messerscharfen Analyse eher keine. Kein Wunder, dass Lichnowsky, die danach 1949 noch den ebenfalls scharf analytischen Essayband „Worte über Wörter“, sozusagen ihr sprachkritisches Vermächtnis, nachschob, nicht in die Zeit passte. Was zur Folge hatte, dass sie auch heute kaum einem Literaturkenner mehr ein Begriff ist. Zumal ihre Nachkriegsverlage die Schriften Lichnowskys als „charmante Frauenliteratur“ und „geistreiche Plaudereien“ völlig falsch bewarben. „Worte über Wörter“ wird heute als „gegen die Sprache der Unmenschen“ gerichtet gelobt, sozusagen als „Destillat aus Lichnowskys geistigem Widerstand“ gegen jeglichen Fundamentalismus.
Sie hatte das vor 1945 geschrieben Buch 1949 dem langjährigen Freund und Schriftstellerkollegen Karl Kraus, „dem damals Lebenden und heute Unsterblichen“, gewidmet. Und zwar in Erinnerung an die gemeinsame Zeit, als sie, eine auch äußerlich außergewöhnliche Frau, seit ihrem ersten publizistischen Auftritt 1913 bis zur Machtergreifung der Nazis schon einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. Und das keineswegs durch ihre exponierte gesellschaftliche Position. 1879 in eine niederbayerische Grafenfamilie hineingeboren, war sie direkte Nachfahrin von Kaiserin Maria Theresia. Als Angehörige des Hochadels war sie standesgerecht verheiratet worden: mit dem etliche Jahre älteren Fürsten Karl Max Lichnowsky, der seine Frau und bald dreifache Mutter von 1912 bis 1914 als Botschafter in London auch in internationale Kreise einführte.
Doch diese große, souverän auftretende Frau mit den ebenmäßigen Gesichtszügen, die sich später sogar Pfeife rauchend fotografieren ließ, überzeugte in den Intellektuellenkreisen durch ihre unkonventionelle Art und ebensolche Werke. Und die ließ sie bewusst nicht mit ihrem Fürstinnenrang bewerben: Sprach die Autorin jemand mit „Durchlaucht“ an, pflegte Lichnowsky ironisch zu korrigieren: „Durchschnittlauch!“ Der Erfolg währte, siehe oben, nur bis 1934. Nach der Machtergreifung der Nazis war Lichnowski aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Im Mai 2022 konnte die Hälfte der Schriften der Sprachakrobatin endlich durch eine Neuausgabe im Zsolnay Verlag in der Reihe „Autorinnen des 20 Jahrhunderts“ der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der „Bibliothek Wüstenrot Stiftung“ wiederentdeckt werden – tragischerweise nur einige Monate lang. Dann waren die vier Bände schon vergriffen. Ein Neudruck sei erst einmal nicht geplant, ist vom Verlag zu erfahren.
Schade, denn es lohnt sich, Lichnowsky zu lesen. Schon ihr apartes Debut „Götter, Könige und Tiere in Ägypten“ von 1913 war ein Erfolg. Bildgewaltig erfasste sie, die damals als Botschaftergattin an die frischen Ausgrabungsorte altägyptischer Malerei und Plastik reisen konnte, die Eindrücke der sensationellen Funde subjektiv in einer eindringlichen Gesellschaftsskizze. Innerhalb kurzer Zeit kam es zu fünf Auflagen. Dichterkollegen wie Rainer Maria Rilke überschlugen sich vor Lob. Es folgten expressionistische Prosa und offen pazifistische Lyrik sowie Theaterstücke. Von den Hauptstadtzeitungen wurde Lichnowsky hofiert. Doch die chauvinistischen Vertreter der Feuilletons teilten schon vor 1933 böse gegen sie aus.
Vom „Blaustrumpf“, dem jegliche Urteilsfähigkeit abginge, wurde berichtet. Und vom „Allerweltsgeschwätz einer dilettierenden Dame“. Womit die Verrisse sich letztlich eher gegen den Botschaftergatten richteten. Karl Max Lichnowsky hatte 1914 als einziger hoher deutscher Diplomat dringend vor einer Kriegserklärung an Russland gewarnt, was seiner Karriere sofort ein Ende setzte. Und auch seiner Ehefrau in den folgenden Jahrzehnten den Ruf, „landesschädigend“ zu agieren, einbrachte. Was ihr wiederum bis 1933 nicht gefährlich werden musste. Sie war Mittelpunkt literarischer Soireen, tauschte sich mit Dichtern wie Hugo von Hofmannsthal, Carl Sternheim und Alfred Kerr aus. Als sie bis zum Tod ihres ersten Mannes 1928 noch über die nötigen Mittel verfügte, unterstützte Mechtilde Lichnowsky darbende Kollegen wie Rilke und Johannes B. Becher finanziell.
Mit den autobiographischen Romanen „An der Leine“ (1930) und „Kindheit«“ (1934) erreichte sie schließlich den Zenit ihrer Bekanntheit – bevor sie die Heimat erst einmal verließ und ab 1939, ohne Ausreisemöglichkeit aus Deutschland, im inneren Exil lebte. „Ihr unerschrockener Zugriff auf das Wesentliche und ihr unprätentiöser Humor können einem nur Vorbild sein“, urteilt eine heutige Schriftstellerin, Eva Menasse, über die Sprachkunst der Vorgängerin. Die sei eine „Stilistin hohen Ranges“ gewesen und habe „eine Prosa ohne Graubrotstellen“ geschrieben. Wobei genau die auch aktuell lesenwert wäre. „Wirrköpfige Schwätzer“ mit hasserfülltem Lügen laufen auch heute wieder genug herum.
Erschienen am 17. Januar 2023 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Unheilbar krank: Und plötzlich fühlt man ungeahnte Kräfte
Unheilbar an Krebs erkrankt – und in den stabilen Phasen trotzdem noch in ehrenamtlicher Vorstandsarbeit eingebunden: Eine Bonnerin erzählt, wie sie das schafft
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Wie es ihr derzeit geht? Auf die vorsichtige Frage antwortet Vera Münch (Name von der Redaktion geändert): „Sehr gut.“ Sie habe gerade von ihren Ärzten „eine Verschnaufpause“ bekommen. Jetzt warte sie noch das fällige Gespräch mit dem Onkologen ab und hoffe, keine weitere Therapie machen zu müssen. „Und dann kann ich endlich wieder für drei Monate bis zur nächsten Untersuchung aktiv sein. Darauf freue ich mich sehr.“
Münch strahlt. Die 62-Jährige ist seit 2019 unheilbar an Krebs erkrankt. Seither gibt ihr die Krankheit den Lebensrhythmus vor. Sie hat sofort ihre Stelle als Juristin in einer Behörde aufgeben müssen. Jetzt beziehe sie eine „Erwerbsunfähigkeitsrente“ und stehe in der „Heilungsbewährung“, zitiert Münch nicht ohne Schmunzeln befremdliches Beamtendeutsch. „Wenn ich mich also nicht bewähre, bin ich tot.“
Die 62-Jährige ist seit 2019 unheilbar an Krebs erkrankt. Seither gibt ihr die Krankheit den Lebensrhythmus vor. Sie hat sofort ihre Stelle als Juristin in einer Behörde aufgeben müssen. Jetzt beziehe sie eine „Erwerbsunfähigkeitsrente“ und stehe in der „Heilungsbewährung“, zitiert Münch nicht ohne Schmunzeln befremdliches Beamtendeutsch. „Wenn ich mich also nicht bewähre, bin ich tot.“ Sie lacht kurz auf.
Und dann berichtet sie, dass sie neben dem ehrenamtlichen Vorstandsposten in Bonn, auf dem sie trotz der Krankheit weiterarbeite, jetzt auch ein zweites ähnliches Amt angeboten bekommen habe. „Ich bin also auf dem Sprung. Ich habe richtig Lust auf den Posten“, sagt Münch strahlend. Auch dieses Gremium sei selbstverständlich über ihren Krankheitsstand und die Bedingungen, unter denen sie mitarbeiten könne, informiert, betont Münch. Sie spiele mit offenen Karten. Aber sie traue sich eben zu, auch diese Chance ergreifen zu können. Münch will trotz Krebs weiter verantwortlich tätig sein.
Aber wie geht das: einen Tumor in sich zu tragen, der jederzeit weiterwachsen kann, und doch noch Vorstandsposten auszufüllen? Krebskrank zu sein, das heiße ja nicht, dass sie in stabilen Phasen nicht immer noch eine Menge leisten könne, antwortet Münch. Sie halte es mit dem berühmten Neurologen Viktor Frankl. „Ich bin fest davon überzeugt, dass eine sinnorientierte Einstellung in größter Bedrängnis ungeahnte Kräfte im Menschen freisetzen kann.“ Verantwortungsvolle Arbeit habe sie schon immer angetrieben. Münch blickt auf Jahrzehnte des hohen Engagements in Beruf und Ehrenamt zurück. „Und jetzt habe ich von meinen Ärzten ein so gutes Ergebnis bekommen. Da darf ich doch wieder neue Pläne machen.“
Sie habe lange überlegt, ob sie im GA-Interview mit ihrem Namen stehen wolle, erzählt Münch. „Dann habe ich jedoch Angst vor der eigenen Courage bekommen.“ Und was fürchtet sie, wenn ihr Name mit einer tödlich verlaufenden Erkrankung verbunden werde? „Ich denke, in erster Linie fürchte ich die Neugier der Nicht-Betroffenen“, antwortet Münch. Sie wolle nicht, dass sie oder ihre Familie laufend auf die Erkrankung angesprochen werde, „möglicherweise sogar in einer Situation, in der es mir gerade schlechter geht, was jederzeit der Fall sein kann.“
Die Reaktion, die Schwerkranke wie sie am häufigsten erführen, seien unbedachte Sätze wie: „Du siehst aber gut aus.“ Münch zuckt mit den Schultern. Da habe sie sich angewöhnt, aus Selbstschutz zu antworten: „Ja, man kann auch schön sterben“ oder „Ich habe die Krankheit nicht im Gesicht“. Jetzt hält Vera Münch eine Zeit lang inne. Sie wisse, dass Mitmenschen Kranke meist aus Überforderung verletzten. „Helfen würden sie, indem sie zuhören und damit signalisieren: Ich bin für dich da.“
Sie wolle einfach nicht auf ihre kranken Anteile reduziert werden, wünscht Münch sich. „Aber andererseits will ich, dass mehr Betroffene, gerade solche, die bereits von Anfang an metastasiert sind wie ich oder im Laufe der Erkrankung Metastasen entwickeln, wissen, dass das nicht das Ende ist.“ Deshalb stelle sie sich dem Interview. „Jeder soll wissen, dass es trotz der Einschränkungen, die die Krankheit uns abfordert, ein gutes Leben geben kann.“ Und dass man in den stabilen Phasen durchaus selbstbestimmt arbeiten könne.
Und dann erzählt sie vom Schock der Diagnose vor drei Jahren. Die Schwere der Krankheit sei für sie und ihre Familie völlig unerwartet gekommen. „Von jetzt auf gleich war ich aus allen Bezügen herausgefallen.“ Sowohl im beruflichen, im ehrenamtlichen wie im privaten Bereich habe sie sich überall abmelden müssen: „Lasst mir Zeit. Ich komme nächstes Frühjahr wieder.“ Beim ersten schnellen Eingriff sei die inoperable Krebserkrankung festgestellt worden, berichtet Münch tonlos. Eine erneute Operation habe die Diagnose bestätigt. „Da ging es mir ganz schlecht.“ Das sei so gewesen, wie wenn früher am Küchentisch ihre Eltern von Fällen erzählt hätten: dass Patienten in der Klinik aufgeschnitten und dann gleich wieder zugemacht worden seien. Hoffnungslose Fälle halt. „Das war hart“, sagt Münch.
Sie berichtet von Behandlungsschritten wie der Chemotherapie, die sie nicht vertrug, von den Erfolgen der Antikörper- und der Radiotherapie, die ihrem Tumor jeweils für eine Zeit Einhalt boten. Die Krebsforschung habe immense Fortschritte gebracht. Sie sei ungemein dankbar, dass ihr so immer wieder ein weiteres Lebensjahr geschenkt worden sei. „Der Tumor ist geblieben. Man kann immer nur versuchen, die Metastasen wegzubekommen, dass er eben nicht streut.“
Münch erklärt das alles sachlich und ohne sichtbare Emotion. Nur wenn sie von ihrer Familie spricht, bricht ihr die Stimme. „Mein Mann trägt alles mit. Er ist wie ich inzwischen ein Meister darin, sich abzulenken“, sagt Münch leise. Sie seien viel zusammen in der Natur unterwegs. „Die Natur gibt Kraft. Sie erlaubt uns, auf andere Gedanken zu kommen.“ Natürlich sei sie nun wesentlich schneller erschöpft. „Ich kann nicht mehr alles“, gibt Münch zu. Um dann sofort hinterherzuschieben: „Aber ich kann auch körperlich noch erstaunlich viel, selbst mit einem künstlichen Darmausgang.“ Und zwar, weil sie sich sage: Jeder Tag ist wertvoll.
Ihr helfe dabei nicht der kirchliche Glaube, antwortet sie dann auf die Nachfrage. „Ich glaube nicht an das ewige Leben.“ Sie beziehe sich lieber auf eine Weisheit aus Michael Endes Buch „Momo“, in dem die Figur Beppo Straßenkehrer rate, nie an die ganze Straße auf einmal zu denken, sondern immer nur an den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut.“ Münch kann ganze Passagen zitieren.
Und wenn sie dann doch immer mal wieder der Schmerz packe? „Dann gehe ich in den Wald und schreie ihn laut heraus“, erzählt Münch. Sie müsse all das dann nur mit sich allein ausmachen. Geholfen habe ihr in den letzten Monaten aber besonders das kostenfreie Online-Angebot des Frauenselbsthilfe-Bundesverbands Krebs (FSH). Es mache ihr immer wieder Mut, dass sie das, was sie erlebe, dort mit anderen teilen könne. „Denn es gibt so viel Unwissen über das Leben mit metastasiertem Krebs.“
Inzwischen arbeitet Münch selbst im Verband mit, sieht das als Teil ihres eigenen „Gesundheitsmanagements“: nämlich selbst Zuversicht zu vermitteln, auch für andere in kritischen Phasen da zu sein. „Ich will unbedingt weiter aktiv bleiben.“ Und dann sagt sie nach einer Pause noch: „Die Nähe zum Tod ist, was das Leben so anders macht, und die Hoffnung, dass man dennoch etwas findet, das das Leben verlängert und den Krankheitsfortschritt verlangsamt.“ Und das meint sie wohl nicht nur in Bezug auf neue Methoden der Krebsbehandlung.
Kontakt zum Bundesverband: https://www.frauenselbsthilfe.de/
Erschienen am 1. Oktober 2022 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Rezension: 500 Jahre Jüdisches Ghetto in Venedig
Die deutsche Ausgabe der Chronik über der Welt erstes jüdisches Ghetto von Giovanni Distevano überzeugt als historische Fundgrube und durch eindrucksvolle Bilder einer Bonner Fotografin
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Der 29. März 1516 ist ein merkwürdiger Tag in der europäischen Geschichte. Venedigs Kirchen lassen die Glocken läuten. Im Ministerrat der Republik ist gerade ein Dekret verkündet worden: Ab sofort müssen alle Personen jüdischen Glaubens, in welchen Bezirken der Stadt sie bislang in wie vielen Generationen auch immer gewohnt haben, in ein abgesperrtes Gebiet am Rand der Lagunenstadt, ins „Ghetto Nuovo“, ziehen. In aller Eile werden billige Häuser hochgezogen. Bald sind 700 Menschen dort eingepfercht. Die Zahl der Bewohner soll sich im 17. Jahrhundert auf 5.000 erhöhen. Das weltweit erste Ghetto separiert jüdische Bürger von den übrigen Stadtbewohnern.
Das geschieht maßgeblich aus wirtschaftlichen Gründen: Der Senat der Handelsrepublik will seine jüdischen Mitbürger besser kontrollieren. Und da vor allem die levanthischen Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich und die Ponentiner, die sich von der spanischen Halbinsel in die Republik retteten. Beide sind versierte Händler, also verdächtige Konkurrenten. Wie auch die dritte Gruppierung, die „Natione Tedesce“, also deutschsprachige jüdische Flüchtlinge, müssen sie sich über lange Zeit mit einem gelben Kennzeichen auf der Kleidung sichtbar als Juden outen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts werden Juden den anderen Venezianern gleichgestellt. Im 19. Jahrhundert können sie sich auch in anderen Stadtteilen niederlassen.
Diesen 29. März 1516 hat die Stadt Venedig trotzdem 2016 mit einem 500-Jahre-Fest begangen. Es berühre seltsam, einen Akt der Isolation zu feiern, denn an jenem Tag habe eine Bevölkerungsgruppe ihre Freiheit verloren, schrieb der italienische Verleger und Venedig-Kenner Giovanni Distefano in seinem 2016 erschienenen Buch „Venezia e il Ghetto“. Vor kurzem ist es im Bonner Verlags-Comtoir von Arno Maurer in deutscher Übersetzung und mit aktuellen Venedig-Bildern der aus Bonn stammenden Fotografin Anna Mc Master neu erschienen.
Die Geschichtswissenschaft begreift die erste Ghettoisierung von Juden vor gut 500 Jahren jedoch letztlich als Akt der Gastfreundschaft, ja als weltweit beispielhafte Rettungsaktion. „Die venezianischen Juden drückten … ihre Dankbarkeit gegenüber der Regierung aus, die sie aufnahm und tolerierte, während andere Staaten sie vertrieben, verfolgten oder auf dem Scheiterhaufen verbrannten“, verdeutlicht es der israelische Historiker Benjaman Arbel heute. Denn in der venezianischen Republik sollten alsbald auch die Juden aus ihrem Ghetto heraus zum wirtschaftlichen und kulturellen Reichtum beitragen können. Genau diese Entwicklung schildert Distefano detailliert in seinem Buch. In einem informativen Spaziergang durch den heutigen Stadtteil sucht er die architektonischen Zeugen einer reichen Geschichte auf.
Dabei ist sein Buch eine wahre Fundgrube für jeden, der sich für die Geschichte der Juden ganz Europas interessiert. Atemlos bahnt sich der Leser durch die ungeheure Faktenfülle, die allein im Chronikkapitel ausgebreitet wird. Und er erfreut sich der hervorragenden Bilder, die Mc Master, einst Schülerin des Bonner Verlegers und Ex-Lehrers Maurer, von den Spuren des alten Venedigs im heutigen Stadtbild beisteuert.
Vom 5. bis Mitte des 20. Jahrhunderts liest sich das Schicksal der europäischen Juden auch in diesem 290-seitigen Buch wie eine immer wiederkehrende Geschichte von Verfolgung und einem unbändigen Überlebenswillen, die mit dem industriellen Morden der Nationalsozialisten in eine neue, in die schreckliche Phase der Vernichtung eintrat. Dabei ist das Brennglas auf die Juden gerichtet, die sich im Laufe alle dieser Jahrhunderte in die Lagunenstadt flüchteten, dort unter strengsten Auflagen lebten, aber eben überleben konnten. Indem sie sich weitestgehenden Verboten bei der Berufs- und Partnerwahl unterwarfen, indem sie Sondersteuern zahlten und in extrem beengten Wohnverhältnissen hausten.
Der Leser bleibt dabei immer wieder auch an den sachlich formulierten, aber trotzdem aufwühlenden Einzelschicksalen von Menschen hängen, die, ob nun selbst Juden oder Zeitgenossen, am Gang der Historie Teil hatten. Da schildert Distefano die Momente, in denen Erdbeben oder die Pest auch die Lagunenstadt erschütterten – und wie, wie das Amen in der Kirche, sofort die jüdischen Mitbürger als heimliche Verursacher, also als Sündenböcke beschimpft und gestraft wurden. Dabei sei der Umstand, dass sich die jüdischen Venezianer als weniger seuchenanfällig erwiesen, allein der Tatsache geschuldet gewesen, dass ihre Hygienevorschriften nicht so nachlässig waren wie allgemein in diesen Jahrhunderten, schreibt der Autor.
Da begleitet Distefano zum Beispiel Mitte des 16. Jahrhunderts einen christlichen Seemann Giorgio el Moreto, der sich, mit einem sogenannten Judenhut getarnt, immer wieder illegal ins Ghetto schleicht, weil er von seiner Liebe zu einem dortigen Mädchen nicht lassen kann - und dafür erbarmungslos zu drei Jahren Zwangsarbeit auf Galeeren bestraft wird.
Der Autor lässt Schlag auf Schlag die Flüchtlingswellen aus Frankreich, Spanien, der Schweiz oder anderen Teilen des Kontinents auf Venedig zurollen. Und die in der Lagunenstadt Aufgenommenen preisen dann ihre neue Heimat auch vom Ghetto aus als den „freiesten Hafen des christlichen Europas“. „Weil man keine tyrannische Gewalt gegen sie anwendet, wie das andernorts passiert“, so hält es 1581 der Gelehrte Francesco Sansovino fest. Juden könnten in Venedig „Gerechtigkeit gegen jedermann erfahren, und „weil sie in außergewöhnlichem Frieden leben, genießen sie dieses Vaterland als ihr gelobtes Land.“
1938 war es damit durch die Rassengesetze der italienischen Faschisten erst einmal vorbei. Bis 1945 wurden 246 jüdische Venezianer nach Auschwitz und in die anderen Nazi-Vernichtungslager deportiert. Nur ein paar haben den Holocaust überlebt.
Im Handel erhältlich: Giovanni Distefano, Chronik des Ghettos von Venedig. Mit Fotografien von Anna McMaster und Abbildungen aus der Sammlung Danilo Reato und der des Autors, 287 Seiten, 81 Abbildungen, Bonner Verlags-Comtoir 2022, 24 Euro.
Erschienen am 13. August 2022 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Rezension: Anselm Nefts neuer Roman "Späte Kinder"
Wie Kriegsgewalt noch in den nächsten Generationen nachwirkt: Anselm Neft kommt am 7. Mai mit seinem Roman „Späte Kinder“ in die Bonner Parkbuchhandlung
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Was wohl das für Sophia eigentlich untypische Pathos plötzlich bedeutet? Thomas, eine der beiden Hauptfiguren in Anselm Nefts neuem Roman „Späte Kinder“, starrt seine Zwillingsschwester am Frühstückstisch ungläubig an. Sie hat in einer der Schlüsselszenen des Buches eben wirklich gesagt, dass eine frisch diagnostizierte Krebserkrankung sie zuverlässig in den nächsten Wochen „killen“ werde. Sophia ist doch „der einzige Teil der Familie, mit dem Thomas viel mehr Gutes als Schlechtes verbindet“. Und auch Sophia fühlt sich dem Zwillingsbruder neben ihrer neunjährigen Tochter Julika eindeutig am nächsten. „Ich bin seit drei Wochen dabei, es zu begreifen“, erklärt Sophia dem geschockten Thomas. Und das erfordere nun „ein gewisses Umdisponieren“. „Was willst du jetzt machen?“ kann Thomas nur noch fragen. „Weiter“, ist Sophias Antwort. Und sie wird ihm bald auch ihren wichtigsten letzten Wunsch mitgeben: dass er mit seiner Freundin bitte neben dem Kindsvater das Sorgerecht für ihre über alles geliebte Tochter übernimmt.
Der 1973 in Bonn geborene Anselm Neft, der seit 2016 als Schriftsteller und Publizist in Hamburg lebt, hat sich mit seinem Neuling erneut in die verstörenden Tiefen einer deutschen Familiengeschichte gewagt. 2017 hatte er im Roman „Vom Licht“ das Grauen einer von fundamentalistischem Furor gesteuerten Aussteigerfamilie vermessen. 2019 zeichnete Neft in „Die bessere Geschichte“ den tragischen Weg eines vereinsamten Jungen nach, der, vom emotionslosen Vater abgeschoben, in einem angeblichen Vorzeigeinternat à la Odenwaldschule familiären Anschluss sucht – und Missbrauch erlebt. Nun also eine gutbürgerliche Arztfamilie in Bonn-Röttgen. Nach dem Tod auch der Mutter wickeln die inzwischen 46-jährigen angereisten Zwillinge im Elternhaus den Nachlass ab. Derweil hat der älteste Bruder auf die wertvollsten Erbstücke schon flugs seine gut sichtbaren Post-it-Zettel gepappt.
In Passagen wie diesen blitzt immer wieder der schneidende Humor und die messerscharfe Analyse hindurch, für die Neft als ehemaliger Poetry-Slammer, als Tageszeitungsjournalist und als Veranstalter des Hamburger „Literaturschnack“-Podcasts „Laxbrunch“ bekannt ist. Mit sezierendem Blick beschreibt er im neuen Roman auch schon bei Mittvierzigern eingefallene Gesichter mit ältlichen Mundwinkeln. Oder er skizziert die Härte junger Feministinnen, die den Traum älterer „Sugardaddys“ auf längerfristige Beziehungen eiskalt zerstören. Da braucht es nur einen Satz: „Ich hatte nicht vor, in ein paar Jahrzehnten deine Pflegekraft zu sein.“
Neft kann aber auch liebevoll Landschaftsbilder zeichnen. Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise sammeln Sophia und Thomas mediterrane Eindrücke: „Wie lang ausgerollte Lakritzschnecken kleben isolierte Stromkabel“ wie abstrakte Gemälde an Häuserfassaden. Unter Balkons mit feinem Gusseisengitter schreiten Katzen gelassen über unebenen Asphalt.
Doch eigentlich geht es Neft, der im Godesberger Aloisiuskolleg sein Abitur machte, in „Späte Kinder“ um etwas anderes. Vielfach im Roman verteilt sind Warnsignale wie die im Bücherregal der Eltern gefundene einstige pädagogische Nazi-Bibel von Johanna Haarer, „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Auch ihre Mutter, die als, wie Thomas es sieht, resignierte Gehilfin eines aggressiven Alkoholikers, also seines verhassten Vaters, lebte, hatte sich noch in der von schwarzer Pädagogik gespeisten Erziehungsfibel Rat gesucht. Angesichts des bei Sophia nahenden Todes machen sich die Zwillinge also nicht nur auf, letzte gemeinsame Dinge zu ordnen, sondern sich auch der bislang uneingestandenen Tragik der Familie zu stellen. Denn die strahlt, so zeigt es der Roman auf eindrückliche Weise, unübersehbar auch noch auf ihr eigenes Erwachsenenleben aus.
Die gerade verstorbene Mutter hat ihre hübsche, kluge Tochter Sophia eigentlich immer nur mit kritischem Blick gestreift. Noch heute hat die promovierte Kunsthistorikerin Sophia das Gefühl, überflüssig, nicht sie selbst zu sein. Der cholerische Vater hat den kreativen Thomas einst mitten ins Gesicht geschlagen. „Was geht da in einem Mann vor? Auf einen Menschen einprügeln, der fünfmal kleiner und zarter ist als du selbst. Wie fühlt man sich danach?”, fragen sich die Zwillinge in der Rückschau fassungslos. Ihre Eltern sind also letztlich selbst nie erwachsen geworden. Und diese auch sich selbst zerfleischenden Dialoge sind sicher die stärksten Passagen des neuen Romans: wenn die beiden "späten Kinder" sich nämlich in ihrer letzten gemeinsamen Zeit auf die Suche nach dem traumatischen Erbe der vom Nationalsozialismus und vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Eltern und Großeltern machen.
Aus Gewalt entsteht immer nur wieder Gewalt, Verhärtung, und Schmerz, steht im Hintergrund aller 50 Kapitel, die zwischen der Sichtweise der sterbenden Sophia und ihres sie bis zuletzt begleitenden Bruders wechseln. Eingestreut sind durch plötzlich entdeckte Aufzeichnungen der Mutter und des Vaters gespeiste Passagen mit bestürzenden Details aus deren Kindheit und Jugend. Die Geschwister lernen nicht zuletzt durch Rollenspiele, im Nachhinein zu deuten, warum die Eltern bei ihrem eigenen Nachwuchs pädagogisch so hilflos waren – und letztlich, warum Gewalt sich bis ins Leben ihrer eigenen Generation nahtlos fortsetzt.
Geerbte Traumata reichen sich also immer weiter, wenn sie nicht bewusst gemacht und aufgearbeitet werden. Das setzt Neft in klarer Sprache in Szene. Und so wirken die Passagen über die von der Eltern- und Großelterngeneration erfahrenen Gräuel in der Nazi-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg gerade vor dem Hintergrund des heutigen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mit noch einmal ganz neuer Vehemenz nach. Auch aktuell dürfte Gewalt immer nur wieder Gewalt säen.
Für Bonner Leser hält das Buch dann aber auch einen klitzekleinen Wermutstropfen bereit: Der Autor lässt seinen anreisenden Protagnisten hier in einem gelbstichigen „Provinzbahnhof“ aussteigen und durch eine als „verbaut“ empfundene Stadt laufen, in der selbst „das Denken eingefriedet“ erscheint. Nicht nur Nefts Bonner Fangemeinde noch aus „Ferkel im Wind“- und „Kleingeist“-Lesebühnenjahren dürfte ihm das sicher verzeihen.
Im Handel erhältlich: Anselm Neft, Späte Kinder, Rowohlt Verlag 2022, 22 Euro
Termin: Anselm Neft liest aus „Späte Kinder“ am 7. Mai, 17 Uhr, Parkbuchhandlung, Am Michaelshof 4b. Moderation: Ebba Hagenberg-Miliu. Eintritt: 15 Euro. Karten unter Tel. 35 21 91, E-Mail: [email protected]
Erschienen am 30. April 2022 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
UNESCO-Welttag der Poesie: Flüstern trägt weiter als Gebrüll
Am 21. März ist UNESCO-Welttag der Poesie. Wie ist es da um die Lyrik in Bonn bestellt? Nachgefragt bei Autoren, einem Verleger, Buchhändlern und Veranstaltern
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Zu anstrengend und schwierig zu erschließen. Also elitär. Kauft keiner. Und liest damit auch keiner: Gedichte gelten vielerorts als literarisches Auslaufmodell. Lyrik hat in unseren durch die Dititalisierung immer enger getakteten Zeiten einen schlechten Ruf. Dabei pflegt doch gerade dieser komprimierten, präzisen und klangorientierten Gattung ein besonderer Zauber, eine ungemeine Intensität inne zu sein. Der ehemalige Verleger Arnulf Conradi drückt das so aus: Lyrik flüstert, aber oft trägt Flüstern weiter als jedes Gebrüll.
Wobei Gedichte gestern wie heute sehr unterschiedlich ausfallen können, wie es der Bonner Lyriker Bernd Beißel launig kommentiert: Viele seien nicht "schwierig", höchstens "schwierig", also schwer zu ertragen. Andere gebärdeten sich vielleicht wirklich so komplex, spezifisch und individuell, dass sie vom Leser zu viel „Arbeit“ erwarteten. Oder es gebe zu wenig Anknüpfungspunkte für Begegnungen im Leseprozess, so Beißel. Immerhin erstaunlich ist, dass in der Champions League deutscher Literatur in den letzten fünf Jahren zwei Lyriker den renommierten Büchner-Preis erhielten: Elke Erb 2020 und Jan Wagner 2017. Und dass auch andere Stars der Literaturszene wie Nora Gomringer und Martin Beyer reine Gedichtanthologien herausgeben und sie auch noch als „aufregend“ bewerten.
Wie ist es da um die Lyrik in Bonn bestellt? Der GA befragte anlässlich des UNESCO-Tages der Poesie sowohl einige Autoren als auch einen Verleger und mehrere Buchhändler und Veranstalter. Immerhin sieht die UNESCO Gedichte als übergreifende und zeitlose Kunstform an, die die Vorstellungskraft der Menschen besonders in schwierigen Zeiten beflügele sowie zur Völkerverständigung und zum globalen Frieden beitrage. Während in Europa aktuell wieder ein Krieg wütet, dürfte das ein sicher hehrer Wunsch sein.
Bonner Lyriker selbst antworten durch die Bank selbstbewusst. Cornelius van Alsum, bürgerlich Frank Engel, der auch die Internet-Literaturzeitschrift „kalmenzone“ herausgibt, erklärt, dass diese kleine, sprachlich verdichtete Form so viele Möglichkeiten biete, die Gestaltungsnorm sinnstiftend zu durchzubrechen. Und dann sei es geradezu faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich Gedichte verstanden werden könnten. Ines Hagemeyer (zuletzt: „Fragen im Schlepptau“) bekräftigt: „Jedes Wort hat Gewicht und kann dennoch mehrfach gedeutet werden.“ Michael Hillen (zuletzt: “Wo das Gestern geblieben ist“) sieht Lyrik als „leises Gesprächsangebot“ für sensible, dem Klang nachhorchende und „erschütterbare“ Leser. Dabei sei der Raum zwischen den Gedichtzeilen nicht weniger bedeutsam als das Geschriebene.
Dominik Dombrowski, der 2021 den postpoetry-Lyrikpreis NRW erhielt, sieht Gedichte einerseits als Orientierung schaffende „Forschungsreise ins eigene Ich“ und andererseits als Einladung, „den Leser mit in eine Meditation zu nehmen“, auf eine Spurensuche in eine „Welt von drei Seiten, in die er sich zurückziehen kann“. Lyrik berge „mehrdimensionale Eigenschaften aus signifikantem Kunstwerk, Musikalität, Psychologie und Philosophie“. Lyriker selbst wiederum müssten ihren Lebensunterhalt meist aus mehreren Beschäftigungen „rund um“ das Schreiben bestreiten. „Man kann nicht von der Lyrik leben, aber auch nicht ohne sie.“
Da gebe es natürlich auch Ausnahmen, sagt Bernd Beißel, der 2017 den Bonner Literaturpreis gewann. Einer Armada Gorman etwa unterstelle er, keine materiellen Sorgen mehr haben zu müssen. Beißel selbst spricht vom hohen Anspruch der Gattung, davon, dass ein Gedicht ein Tor zu Bereichen öffne, die sonst nicht zugänglich seien. Lyrik zu lesen erfahre er wiederum als ein Momenterleben, als das Sehen eines einzelnen Bildes in einer Galerie im Gegensatz zu einem Prosatext, den er eher als Film wahrnehme. Und dann, auf den Leser bezogen, meint Beißel: „Das Gedicht entsteht in jedem Lesevorgang neu und anders.“ Und wenn sich dem letztlich wenige Leser aussetzten, liege es vielleicht daran, dass heute tatsächlich etwas wie "Muße" fehle.
Die Muße, Lyrik zu prüfen, ja den Mut, auch "flüsternde" Literatur herauszugeben, zeichnet etwa den Bonner Verleger Hans Weingartz aus. Jede vierte Neuerscheinung im Bereich Belletristik sei in seinem Kid Verlag bisher ein Lyrikband, rechnet er vor. So komme er auf schon zwölf Lyrik-Bücher, von denen einige sogar Bestseller bei „Kid“ seien. Wobei er als Verleger natürlich davon ausgehen müsse, dass Bände mit komischer Lyrik à la Joachim Ringelnatz meist höhere Verkaufszahlen erreichten als „ernste“ Gedichte. Da wäre es also wieder, das Gespenst von der elitären, anspruchsvollen Poesie, der sich heute leider nur wenige aussetzen wollen.
Dem müssen sich Bonner Buchhändler aber tagtäglich stellen. Barbara Ter-Nedden erzählt, dass sie in ihrer Parkbuchhandlung die Nobelpreisträgerin Louise Glück und Shooting Stars der Kinderlyrik wie Michael Roher und Kenn Nesbitt „tatsächlich stapelweise“ verkaufe. Es gebe zudem Kunden, die das reiche Lyrikregal im Geschäft regelmäßig durchforsteten. Sie veranstalte bewusst auch Gedichtlesungen. Aber Lyrik habe am deutschen Buchmarkt letztlich nur einen Umsatzanteil von 0,4 Prozent, warnt Philipp Seehausen, Unsere Buchhandlung am Paulusplatz. Deshalb spezialiserten sich meist einige Fachgeschäfte, um Kennern immer Neues bieten zu können: In Bonn habe sicher die Buchhandlung Böttger mit 1.800 Bänden die größte Auswahl in diesem Segment sowie entsprechende Titel auch in der eigenen Edition.
Mit Alfred Böttger arbeitet Almut Voß vom Literaturhaus Bonn auch bei speziellen Veranstaltungen gerne zusammen. „Und wenn bei Lyrik-Lesungen manchmal auch nur unter zehn Teilnehmer zusammensitzen, wird man doch mit einer ganz intensiven Auseinandersetzung über Literatur reich entschädigt“, schwärmt Voß. Lyriker seien ohnehin Idealisten und eng verbunden miteinander, hat sie auch im Bonner Raum beobachtet. Vielleicht verjünge sich die Lyrik-Szene aber derzeit sogar, weil die Verdichtung auf knappem Raum ja auch in den sozialen Medien ständig geübt werde, gibt Voß zu bedenken. „Die literarische Form der Intensivierung könnte somit sogar der Jugend entgegenkommen.“
Mit ironischer Brechung
Michael Hillens neuste Gedichte verzichten wie auch die der anderen hier vorgestellten Lyriker auf Reim, metrische Strenge und Versalien. Hillen, ein erfahrener Lektor, arbeitet durchaus mit nachrichtlichem Vokabular, um dann plötzlich zu Künstlerzitaten oder auf Zeilen fast vergessener Lieder umzulenken. Mehrfach rollen die letzten Verse Gedichte in ironischer Brechung neu auf. Hillen blickt sehnsüchtig in die Kindheit, als wir „die welt zum bruder noch“ hatten, aber ebenso genau auf gegenwärtige „orte des unglücks“, die uns schon durch das Frühstücksradio des Nachbarn aufschrecken. Bonner Lokalkolorit lugt hervor, wenn das Geschilderte durch „nachhallende glockenschläge des fernen münsters“ orchestriert wird. Und der gläubige Crêpes-Verkäufer aus der Remigiusstraße selbst Maria Magdalena „ein vorzüglich komponiertes eierküchlein“ reichen würde. ham
Michael Hillen, Wo das Gestern geblieben ist, Verlag Königshausen & Neumann 2021, 14,80 Euro.
Mit versöhnlichem Ausblick
Ines Hagemeyer ist eine der Grandes Dames Bonner Lyrik. Und auch 83-jährig spielt die langjährige Übersetzerin noch einmal gekonnt auf der Klaviatur ihrer zugleich bildreichen wie klaren Sprache. Hagemeyer resümiert ihre Lebensthemen: das Unrecht und Leid der Vertreibung als Kind jüdischer Eltern nach Südamerika und den Reichtum, in mehreren Kulturen aufgewachsen zu sein, sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit Einer, die schließlich doch in Bonn eine Familie gründete. Heimat sind ihr die Sprachen. Mehrere Gedichte hat Hagemeyer auch in Spanisch verfasst. Sie ist aber auch hochaktuell unterwegs: wenn sie etwa den uns besudelnden Unrat neuer Legendenteppiche beklagt. Versöhnlich endet das letzte Gedicht, auch wenn es mahnt, die Welt liege in Schutt und Asche: „doch dann sah ich / eine feldblume / sich vor mir öffnen.“ ham
Ines Hagemeyer, Fragen im Schlepptau, Pop Verlag 2021, 16,50 Euro
Mit alliterierendem Klang
Gert Podszun kommt aus der Betriebswirtschaft – und schreibt in seinem neuen Band auch Liebesgedichte. Wenn das lyrische Ich etwa den Setzkasten für Buchstaben erschreckend leer vorfindet und seine Partnerin bittet, ihn wieder aufzufüllen, weil nur sie „die hände“ dafür hat. Der Autor pflegt ebenso das Naturgedicht, klangvoll alliterierend und mit Sehnsucht nach dem knirschenden Muschelsand der Nordsee. Podzsuns Gedichte scheuen auch nicht das moderne Alltagsvokabular: Menschen tragen bei ihm Sneakers, hören Wetternachrichten. Er geht lyrisch den neusten digitalen Entwicklungen nach, aber nicht ohne die Sackgasse zu beschreiben, in die sie führen können: Was als digitale Brücke gedacht war, regnet plötzlich als „apps gegen das reden“ nieder. ham
Gert Podszun, VonWegen, Gedichte, Bonntext 2021, 15,50 Euro
Erschienen am 19. März 2022 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Holocaust: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen
Die gängige Holocaust-Gedenkkultur hat den Opferstatus von Juden in unseren Köpfe zementiert. Der Göttinger Anwalt Achim Doerfer setzt mit seinem Buch dagegen
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Dieses Buch war überfällig. Es rückt nämlich das gängige Narrativ, dass sich die Juden Europas bis 1945 in der Massenvernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten nur widerstandslos wie die Lämmer zur Schlachtbank führen ließen, endlich zurecht. Achim Doerfer, 1965 in Göttingen in eine Familie von Holocaust-Überlebenden geboren, hat es sich zum Ziel gemacht, dem damaligen Widerstand und daraus folgend der jüdischen Rache und Vergeltung an den Tätern nach 1945 akribisch nachzugehen. Denn in den deutschen Medien habe es diese Themen bislang so gut wie nicht gegeben, klagt Doerfer, der als Anwalt arbeitet und sich im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Göttingen und im interreligiösen Dialog engagiert.
Gab es diesen Widerstand also, gab es die Rache wirklich? „Ohne eine Antwort auf diese Frage fühle ich mich außerstande, mir selbst und meinen Kindern zu erklären, was es bedeutet, deutsch zu ein, und was es bedeutet, jüdisch zu sein“, schreibt Doerfer. Es ist also für den Autoren, der bislang wirtschaftspolitische Bücher verfasste („Die große Abzocke, Wie Konzerne systematisch die Kunden übers Ohr hauen, 2016), ein existentielles Anliegen. Licht in den Nebel auch familiärer Tradierung zu bringen. Unter dem Buchtitel „Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen“ macht sich Doerfer also auf die Suche.
Vielleicht sei die Unterdrückung des Unfassbaren für die Generationen der direkt Betroffenen, derer, die sich über Jahre angstvoll vor den Nazi-Häschern verstecken mussten oder die in die Lager verschleppt wurden und trotzdem überlebten, der einzige gangbare Weg gewesen, weiterzuleben, sinniert Doerfer. Auch in seiner Familie sei fast nicht über die Jahre der Erniedrigung, des Gequältwerdens und der millionenfachen Morde gesprochen worden. Für ihn selbst, die Generation danach, gebe es aber kein Weiterkommen, ohne zu versuchen, dieses Unfassbare zu fassen, zu erklären. Und zu verstehen, wie die Eltern- und Großelterngenerationen in Deutschland „zwischen all den Mördern und den noch viel zahlreicheren Mitläufern, die sich an ihren Taten nicht sonderlich störten“, weiterleben konnten, Deswegen habe er sich also auf die Suche nach Rache- und Hassgefühlen begeben.
An dieser Stelle erhält das Buch eine immense Wucht. Denn Doerfer dekliniert sie alle durch, die vielfältigen und brutalen Widerstands- und Rachegeschichten, die Überlebende und Zeitzeugen überliefert haben. Da geht er den Spuren der jüdischen Rächerorganisation Nakam nach, die sich seit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland dem antifaschistischen Widerstand anschlossen, während viele gerade ältere Juden noch glaubten, der „braune Spuk“ werde schon irgendwann zu Ende sein. Doerfer würdigt den Brandanschlag der jüdischen Jungkommunisten um Marianne und Herbert Baum im Berliner Lustgarten auf eine Ausstellung Joseph Goebbels. Er stellt sozialistische Jugendorganisationen vor, die gerade in Osteuropa gegen die Nazis aufstanden. Eines ihrer Mitglieder war Mordechaj Anielewicz, der 1943 den Aufstand im Warschauer Ghetto organisierte. Des Schauspielers Hermann Langbein wird gedacht, der zur konspirativen internationalen Widerstandsorganisation in Auschwitz gehörte.
Selbst in einem Todeslager wie dem von Auschwitz-Birkenau sei kein Tag ohne kleine Handlungen des jüdischen Widerstands gegen die unmenschliche Lagerordnung vergangen, schildert der Buchautor. Auch wenn den Aufmüpfigen der Tod gedroht habe, hätten sie ihre Würde bewahrt. Wenn sie schon hätten sterben müssen, dann habe das im Kampf geschehen sollen. Doerfer schildert zahlreiche Beispiele. Er setzt damit den hoffnungslos Verlorenen 80 Jahre danach ein Denkmal. Wir Nachgeborenen dürften den Holocaust nicht weiter nur nach der Ikonographie der Täter wahrnehmen, die gezielt armselige Schwarzweißfotos einer anonymen Opfermasse aufgenommen hätten, mahnt der Autor.
Juden hätten maßgeblich den Widerstand gegen das Hitlerregime getragen. Deutsch-jüdische Historiker und Shoah-Überlebende schätzten die Zahl der im Zweiten Weltkrieg kämpfenden Juden auf 1,5 Millionen, so Doerfer. Zudem habe es wohl ebenso viele jüdische Soldaten in den Reihen der alliierten Streitkräfte gegeben, die in der sowjetischen, britischen und US-amerikanischen Armee gegen Nazi-Deutschland kämpften.
Dass Doerfer damit die hiesige Erinnerungskultur aus einer Schieflage befreit, ist offensichtlich. Er geht aber auch den Rachefeldzügen jüdischer Opfer nach 1945 im Detail nach. Zwei Beispiele, die unter die Haut gehen, schildert er gleich im Prolog. Da berichtet der jüdischstämmige US-Soldat Ben Fernecz, der später Chefankläger im Einsatzgruppenprozess der Nürnberger Prozesse werden sollte, wie nach der Befreiung eines KZs ausgemergelte Ex-Gefangene voller Wut ihren winselnden SS-Aufseher zusammenschlagen und noch lebend auf der metallenen Bahre in den Ofen schieben, in den sie zuvor unzählige Leichen von Schicksalsgenossen hatten befördern müssen. Ferencz, einer der ersten Befreier von KZ-Gefangenen, habe später zu Protokoll gegeben: „Ich tat nichts, es aufzuhalten.“ Das von den Nazis angerichtete Grauen, das er in den KZs vorgefunden habe, habe all seine Vorstellungen übertroffen gehabt. Er habe die Rache der Opfer akzeptieren müssen.
Das andere historische Beispiel erinnert an eine brutale Szene des Spielfilms „Inglourious Basterds« von Quentin Tarantino, in dem die jüdischen Widerstandskämpfer gnadenlos Selbstjustiz an SS-Schergen üben. In Doerfers Buch ist es der Zeitzeuge Chaim Miller, der damals zu Protokoll gegeben habe, man habe die konkret an massenhaften Verbrechen Schuldigen ausgespürt und sie selbst abgeurteilt. Denn „die Nazis haben Millionen Juden misshandelt, gedemütigt, geschlagen, erschossen und vergast“, so Miller. Dafür habe er sich gerächt. Doerfer hat aus diesem Ausspruch seinen Buchtitel entwickelt.
Die zweite Hälfte des Buches dürfte dann durchaus auch als Provokation gelesen werden. „Die deutsche Erinnerungskultur trägt nicht die Handschrift der Opfer des Nationalsozialismus“, soweit kann sicher jeder, der sich um Fakten und nicht Meinungen bemüht, noch mit dem Autoren mitgehen. Zumal der wiederum akribisch das erschreckende Versagen der deutschen Justiz nach 1945, die entsprechenden Nazi-Täter und -Mitläufer betreffend, an vielen Beispielen schildert. Massenhaft seien offensichtliche Täter wieder in die Gesellschaft eingegliedert worden. Dann jedoch sattelt Doerfer noch die These darauf: Die Erinnerungskultur in Deutschland sei „eigennütziges Produkt der Mehrheitsgesellschaft, zirkelförmig sich wiederholende Selbstbestätigung nicht betroffenen Erinnerns“. Und die von der Mehrheitsgesellschaft viel beschworene und bejubelte Versöhnung zwischen Deutschen und Juden sei bis heute ein unwürdiges Gedenktheater geblieben.
Folgerungen wie diese sind auf jeden Fall vor dem Hintergrund der grassierenden, von rechts betriebene Relativierung der Geschichte ernsthaft zu diskutieren. Achim Doerfers an dieser Stelle regelrecht wütendes neues Buch bietet dafür eine bestens geeignete Grundlage.
Im Handel erhältlich: Achim Doerfer: Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 24 Euro
Erschienen am 22. Januar 2022 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Katholische Kirche: Norbert Lüdeckes Buch "Die Täuschung"
Der Bonner Kirchenrechtler Professor Norbert Lüdecke erregt die Gemüter mit einem zugleich scharfsinnigen wie provokanten Buch über die katholische Kirche
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Der aktuelle Zustand der Römisch-katholischen Kirche ist ein spannendes Thema. Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke hat darüber gerade ein Buch mit dem Titel „Die Täuschung“ geschrieben. Die ersten Rezensenten bescheinigen dem 62-jährigen Professor der Bonner Katholischen Fakultät, es sei kenntnisreich, überaus scharfsinnig und stark in der Analyse. Auch die katholische Nachrichtenagentur kna beschäftigt sich mehrfach mit dem 300-Seiten-Werk. Lockt es doch vor dem Hintergrund der derzeitigen Austrittswelle auch mit dem launigen Untertitel: „Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?“
Die Leitungsebene der Amtskirche jedoch hält sich bedeckt. Bischof Georg Bätzing lehnt es als Vorsitzender der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz rundweg ab, zur Neuerscheinung überhaupt Stellung zu beziehen. Und von der großen katholischen Laienorganisation, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), kommt eine Abgrenzung. Präsident Thomas Sternberg spricht von allzu „steilen Wörtern“ Lüdeckes und davon, dass man sich in der praktischen Arbeit für Reformen in der katholischen Kirche „nicht nur auf solche Rechtsdinge stützen" möge, sondern tun müsse, was überhaupt möglich sei. Hier widerspricht sozusagen der Praktiker dem Theoretiker.
Womit verstört also offenbar ein gestandener Theologe wie Lüdecke? Und das in einer gerade vor dem Hintergrund der päpstlichen Entscheidungen zu den Erzbischöfen Rainer Maria Woelki und Stephan Heße so angespannten Lage? Lüdecke hat schon in den vergangenen Jahren mit so mancher provokanten These auf sich aufmerksam gemacht. 2018 startete er zum schwelenden Missbrauchsskandal unter dem Titel „Empörung reicht nicht“ auf einer Sitzung in Trier einen der damals schärfsten innerkirchlichen Angriffe: Interpretierte er doch das Handeln der Bischöfe als "Beruhigung durch beharrliche Verharmlosung, Vernebelung und erschöpfendes Aussitzen.“
Da setzt er jetzt vor aktueller Kulisse wieder an. In seinem glasklaren Stil definiert Lüdecke in aller Härte die kirchenrechtlichen Positionsunterschiede zwischen Klerikern und Laien, zwischen „Hirten“ und „der Herde“, als katholisch identitätsbildend. Bei der Amtskirche handele es sich nicht um eine nach demokratischen Regeln strukturierte und handelnde Vereinigung, sondern strikt um eine „Klerikalmonarchie“, die von den Laien, den „Schafen“, letztlich immer die Unterwerfung einfordern dürfe.
Das vor dem Hintergrund des seit 2019 laufenden Dialogprozesses „Synodaler Weg“, auf dem sich die Bischöfe mit innerhalb der Kirche organisierten Laien befinden, so unmissverständlich herauszustreichen, ist natürlich starker Tobak. Erhoffen sich doch letztere wohl mehrheitlich eine neue Weichenstellung für die kirchliche Zukunft in Deutschland. Will Lüdecke hier also wider den Stachel löcken? Nein, erläutert der Autor. Er definiere seine Rolle als Kanonist, als Erklärer des kanonischen Rechts der Römisch-katholischen Kirche. Es gehe ihm um Aufklärung über die real-existierende Kirche, und zwar gemäß seinem kirchlichen Auftrag. Er äußere sich, um Lehre und Recht der Kirche so darzustellen, wie sie amtlich gemeint seien. „Das ist nicht meine Theorie, die Kirche sei eine absolutistische Monarchie, sondern das ist lediglich die Übersetzung des Kirchenrechts in eine politologische Terminologie“, sagt er in einem Interview.
Es herrsche, seit 2018 die sogenannte MHG-Studie furchtbare Enthüllungen über sexuellen Missbrauch innerhalb kirchlicher Einrichtungen und Gemeinden aufdeckte, immenser Druck im Kessel. Die entsetzten Reaktionen der Basis würden auf der Leitungsebene als systembedrohlich empfunden, argumentiert Lüdecke. Deshalb riefen die Hirten zur Beruhigung der Lage „zusammen mit willigen Laienhelfern ein geschicktes Handlungsskript“ ab. Lüdecke baut verbal scharfe Geschütze auf.
Seiner Argumentation nach wärmten die Bischöfe heute ihre seit ihrer Würzburger Synode in den 1970er Jahren schon erfolgreiche „alte Masche“ wieder auf: die Laien tatkräftig an Zukunftsvisionen mitarbeiten zu lassen, damit sie das Gefühl bekämen, etwas bewirken zu können. Danach werde man der „Herde“ sicher wieder beibringen, „dass es nichts zu verhandeln gibt.“ Der Zweck des Synodalen Wegs sei also, so sieht es Lüdecke, kein gleichberechtigter Prozess, sondern nur eine „kontrollierte und dauerhafte Druckabsenkung“.
Indem er hier von „willigen Laien“ spricht, bekommt natürlich auch das ZdK sein Fett weg. Von Seiten der Herde Augenhöhe mit den Bischöfen zu erwarten, habe nichts mit der Realität zu tun, schreibt Lüdecke grimmig. Warum also machten die Laien bei der aktuellen „Partizipationssimulation“ in Potemkin`schen Dörfern wieder mit? Lüdecke fühlt sich lebhaft an das Wiederholungstrauma im Hollywood-Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert.
Das sind harte, oder wie ZdK-Präsident Sternberg es sagt, steile Worte. Wobei Sternberg Lüdecke dann durchaus auf halbem Weg entgegenkommt, wenn er, etwas verklausuliert, kommentiert, die im Synodalen Weg engagierten Laien wollten halt „unabhängig vom Kirchenrecht und unabhängig von überörtlicher Genehmigung“ handeln, aber der Synodale Weg sei in seiner „Umsetzung allerdings vom guten Willen der Bischöfe abhängig“. Das Prinzip Hoffnung steht hier also gegen das von Lüdecke pointiert analysierte System.
Und haben nun die Katholiken die Kirche, die sie verdienen, wie der Buchautor es im Untertitel durchaus provokant fragt? Lassen sie sich wissentlich täuschen, um in der Terminologie Lüdeckes zu bleiben? Er selbst antwortet jedenfalls mit einem glatten Ja. Letztlich sei bei vielen Gläubigen sicher die Angst ausschlaggebend, dass sie sich immer wieder auf „Weichzeichnerangebote“ und „Rundwege“, die an kein Ziel führten, einließen, meint der Autor. Es herrsche also Angst vor einem „Zuschuss- oder Arbeitsplatzverlust, vor kirchlicher Entheimatung, vor einem Verlust der Mitglaubenden, vor dem Verlust dessen, was sie zu ihrem Leben gehörig zählen“.
Die biographische Fernbindekraft an das „katholische All-inlcusive-Sinnangebot“ bleibe wirksam. Hierfür zeigt Lüdecke durchaus Verständnis. Da verblieben viele eben auch auf dem Synodalen Weg und in, wie er es ausdrückt, inszenierten Dialogen lieber in der „kollektiven Regression“. Dann aber, und hier schaltet Lüdecke auf Angriff, dann mögen solche „Trotzdem-Katholiken“ auch aufhören, „schizoid für Gesellschaft und Staat Rechte und Praktiken zu fordern", die sie kirchenintern nicht einforderten oder deren Verweigerung sie gläubig akzeptierten.
Und hätten die Laien wirklich keine Handhabe, selbst Macht zu zeigen, fragt Lüdecke schließlich. Er antwortet hier selbst mit einem „Doch“, das der Amtskirche aber äußerst bitter aufstoßen dürfte. Laien könnten durchaus Druck aufbauen, meint der Professor: mit dem Wegfall ihrer Kirchensteuer durch Austritt oder mit dem Entzug ihrer für die Kirche ebenso wichtigen ehrenamtlichen Arbeit. Lüdeckes Buch dürfte also noch so manche Diskussion über die katholische Kirche beleben.
Im Handel erhältlich: Norbert Lüdecke, Die Täuschung, wbg Theiss 2021, 304 Seiten, 20 Euro
Erschienen am 18. 12.2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Foto: Universität Bonn, Katholische Fakultät
Holocaust: Glaubensfest bis in die Gaskammer
Sie studierte einst in Bonn und wurde Kinderärztin, dann Ordensschwester – und schließlich Opfer in Auschwitz:
Die letzten Tage im Leben der Lisamaria Meirowski
Von Ebba Hagenberg-Miliu
7. August 1942:
An diesem Sommermorgen im Zweiten Weltkrieg wird Lisamaria Meirowski im Norden der Niederlande zum letzten Mal von Zeugen gesehen. Da ist sie gerade am Bahnsteig von Westerbork angelangt und wird mit an die 1000 anderen angsterfüllten Gefangenen jüdischer Herkunft in Zugwaggons gedrängt. Die 37-jährige Kinderärztin, die 1933 ihr Medizinstudium in Bonn abschloss, befindet sich in einer besonderen Gruppe: Diese 63 Personen sind katholisch getauft, also zum Christentum konvertiert. Meirowski hat neun Jahre zuvor nach einem langen Weg der Vergewisserung in der Kapelle des Bonner Malteser-Krankenhauses das Sakrament der Taufe empfangen. Auf dem Bahnsteig weinen Kinder. Sorgenvolle Erwachsene haben ihr letztes Hab und Gut aufgetürmt, im Glauben, es nach dieser Zugfahrt noch zu brauchen.
Meirowski, eine dunkelhaarige Frau mit auf Fotos melancholischen Augen, sticht auf dem Bahnsteig an diesem 7. August 1942 mit ein paar anderen Gefangenen hervor: Sie tragen, so berichten Augenzeugen später, Habit. Denn die Ärztin ist 1938 in den Dominikaner-Orden eingetreten. Sie lebt seither als Schwester Maria Magdalena Dominica nach klösterlichen Regeln. All das interessiert jedoch die deutschen Besatzer, die auch sie nach Westerbork verschleppt haben, nicht im Geringsten: Auch hinter dieser Ordensschwester werden sich die Waggontüren schließen. Sie wird in zwei Tagen ermordet, nur weil sie jüdischer Abstammung ist. In ihrer letzten Lebenswoche haben sich für die 1904 in Ostpreußen geborene Ärztin die tragischen Geschehnisse nur so überschlagen.
Die Frau, die aus der seit 1908 in Köln ansässigen Familie des bekannten Dermatologen Emil Meirowski stammt, war 1933 nach ihrer ersten Promotion vor den Nazis nach Rom geflohen. Dort ließ sie sich nochmals prüfen, schloss eine zweite Doktorarbeit ab und ließ sich parallel schon für den Dominikanerorden ausbilden. 1938 musste sie aus dem faschistischen Italien weiter in die Niederlande fliehen, um dort jedoch ab Mai 1940 nach der deutschen Invasion erneut unter Nazi-Herrschaft zu geraten. Seit August 1940 hatte Meirowski im Trapistinnenkloster von Berkel-Enschot bei Tilburg Unterschlupf gefunden und konnte heimlich als Ärztin und Pförtnerin nützlich sein. „Die Tätigkeit der emigrierten Deutschen an der Klosterpforte sollte sich jedoch als verhängnisvoll erweisen“, schreibt Birgit Formaski in ihrem 2020 erschienenen Buch „Lebensbilder jüdischer Akademikerinnen“: Aufgrund einer Denunziation wird die Dominikanerin von der Gestapo verhaftet. Und damit beginnen die letzten Lebenstage der Lisamaria Meirowski
4. August 1942:
Mit anderen konvertierten Ordensleuten wird sie an diesem Sommertag ins KZ-Durchgangslager Westerbork verschleppt. Dort trifft sie unter traurigen Umständen wieder mit der ebenfalls deutschen Karmelitin Edith Stein zusammen, der bekannten Philosophin auch aus jüdischer Familie, mit der Meirowski vorher schon Kontakt hatte. Und die 13 Jahre ältere Stein mit dem Ordensnamen Teresia Benedicta vom Kreuz, die nach einer landesweiten Razzia mit anderen konvertierten Ordensleuten aufgegriffen worden ist, sollte mit ihr drei Tage später am Bahnsteig von Westerbork in denselben Zugwaggon getrieben werden.
Im KZ Westerbork gelingt es Meirowski am 4. August, sich noch einmal an die hilfreichen Trappistinnen im Kloster Berkel-Enschot zu wenden. „Sie wissen wohl, dass wir hier sind und die Verschickung nach Polen abwarten,“ schreibt sie. Der Brief wird wirklich im Kloster ankommen. Die 37-Jährige weiß also, dass es für sie und die anderen Gefangenen dorthin geht, was als Schreckenswort gilt: „nach dem Osten“. Das soll auch Edith Stein drei Tage später noch aus einem Viehwaggon des Todeszuges nach Auschwitz heraus an einem deutschen Durchgangsbahnhof Zeitzeugen zugerufen haben: „Es geht nach dem Osten“.
Lisamaria Meirowski beschließt ihr Schreiben an die holländischen Trapistinnen am 4. August mit einem letzten Gruß: „Ich will Ihnen sagen, dass ich voll Vertrauen und ganz ergeben in Gottes heiligen Willen bin." Die Glaubensschwestern mögen ihnen, den Gefangenen, doch bitte noch Kleidung und geistliche Literatur schicken. Meirowski scheint sich ihrer ausweglosen Situation bewusst zu sein. Was sie nach dem panischen Aufbruch aus dem Kloster jetzt überhaupt noch braucht, ist vor allem Gottes Wort. Auch von der Mitschwester Edith Stein ist überliefert, dass sie wegen ihres festen Glaubens unter all den bangenden Menschen im Sammellager die Nerven zu behalten vermag. Ein Augenzeuge berichtete später: „Unter den Gefangenen fiel Schwester Benedicta auf durch ihre große Ruhe und Gelassenheit.“ Der Jammer und die Aufregung rundherum seien unbeschreiblich gewesen. Doch Schwester Benedicta sei unter den Frauen umhergegangen, tröstend, helfend, beruhigend „wie ein Engel.“
5. August 1942:
Am Tag nach ihrer Ankunft schafft es Meirowski ein letztes Mal, einen Brief aus dem holländischen Durchgangslager der Nazis hinauszuschmuggeln. Er soll an ihren Beichtvater, den holländischen Dominikanerpater Mathias Frehe, gehen. Und das Schreiben kommt wirklich bei ihm an. Es kann als Lisamaria Meirowskis Vermächtnis gelten. Heute liest es sich beunruhigend, in seiner unbedingten Opferbereitschaft fremdartig, ja ganz sicher wie aus einer anderen Zeit. Meirowski spricht für die mitgefangenen Ordensleute. „Sie wissen wohl, dass wir hier sind und die Verschickung nach Polen abwarten“, setzt sie voraus, dass der Pater den Ernst der Lage kennt. Sie wolle ihm „einen letzten Gruß senden und Ihnen sagen, dass ich voll Vertrauen und ganz ergeben in Gottes heiligen Willen bin“, formuliert sie. Mehr noch: Sie betrachte es als eine „Gnade und Auserwählung, unter diesen Umständen weg zu müssen und so einzustehen für das Wort unserer Väter und Hirten in Christus.“
Welche eine „herrliche Krone“ sei ihnen im Himmel bereitet, fährt die gläubige Katholikin fort. „Freuen Sie sich mit mir“, fordert sie den Beichtvater in ihrer tragischen Situation auf. „Ich gehe mit Mut, Vertrauen und Freude - auch die Ordensschwestern, die mit mir sind - wir dürfen Zeugnis ablegen für Jesus.“ Sie gingen „als Kinder unserer Mutter, der heiligen Kirche“, und wollten sich aufopfern „für die Bekehrung vieler, für die Juden, für die, die uns verfolgen, und so vor allem beitragen für den Frieden und das Reich Christi.“ Die Frau, sich die unschuldig dem Tod geweiht sieht, will sogar noch einen Dienst an denen tun, die sie verraten haben und die sie weiter verschleppen werden. „Falls ich es nicht überlebe, werden Sie wohl die Güte haben, später an meine geliebten Eltern und Brüder zu schreiben und ihnen zu sagen, dass das Opfer meines Lebens für sie ist“, fügt Lisamaria Meirowski hinzu.
Professor Emil Meirowski, ihr Vater, der vor der Machtergreifung der Nazis Vorsitzender der Kölner Ärztekammer gewesen war, hatte 1933 an der Kölner Universität Berufsverbot erhalten. 1938 musste er auch seine Hautarztpraxis aufgeben. 1939 gelang es ihm, mit seiner Frau Clara und dem Sohn Arnold nach England zu fliehen. Da hatte Tochter Lisamaria noch geglaubt, in den Niederlanden bei Ordensleuten sicher zu sein und anderen Flüchtlingen helfen zu können. „Möge Gott ihnen das Licht des Glaubens geben und ewiges und zeitliches Glück, wenn es sein Wille ist“, gibt sie nun am 5. August 1942 als Gruß an ihre Familie ihrem Beichtvater weiter. „Übermitteln Sie ihnen allen meine Liebe und Dankbarkeit.“
6. August 1942:
Am Tag nach diesem Brief kommt noch einmal ein Bote des von Meirowski angeschriebenen Klosters ins KZ Westerbork. Er soll den Gefangenen die erbetene Kleidung und geistliche Bücher bringen. Ein Herr van Riel aus Tilburg meldet sich mit einem Ausweis als Vertreter der Bierbrauerei „De Schaapskoi" an. Der Mann ist nicht auf den Mund gefallen und mogelt sich bis zu den inhaftierten Schwestern durch. Lisamaria Meirowski erkennt er sofort wieder. Er hat sie an der Klosterpforte oft gesprochen und schafft es nun, mit ihr einige Worte zu wechseln. Sie habe eine Armbinde getragen, die sie im Lager als Ärztin für das Rote Kreuz auswies, wird der Mann später berichten. Sie habe einen glücklichen Eindruck gemacht. Denn so habe sie anderen, die krank und angsterfüllt waren, helfen und seelisch beistehen können.
Als der Herr von der Bierbrauerei am Morgen danach, am 7. August 1942, selbst am Bahnhof steht, um zurückzufahren, erfährt er: Die ihm bekannte Ordensschwester und die anderen Gefangenen sind hier schon kurz zuvor zusammengetrieben und in überfüllten Waggons abtransportiert worden. Bei Nacht und Nebel, damit es so wenige Anwohner wie möglich mitbekommen. Der Zug mit den insgesamt über 1000 jüdischstämmigen Mitmenschen ist schon unterwegs „nach dem Osten.“ Auf der Westerbork-Liste A, Nr. 17, vom 7. August 1942 ist der Name Lisamaria Meirowski denn auch unter den Deportierten verzeichnet. Ziel: Auschwitz-Birkenau.
9. August 1942:
Erst an der Rampe des Vernichtungslagers werden die Insassen des Zuges aus Westerbork die Waggons wieder verlassen dürfen. Die an ihrem Habit erkennbaren Ordensschwestern werden mit den Alten, Müttern und Kindern sofort zu den Todgeweihten aussortiert. An diesem 9. August 1942 wird auch Lisamaria Meirowski zu den Gaskammern des grauenvollen „Weißen Hauses" von Birkenau getrieben. Sie müssen sich entkleiden. Angeblich sollen sie geduscht werden. Kurze Zeit später wird das tödliche Gas die dichtgedrängten Opfer qualvoll vergiften. Ob auch Meirowski in ihren letzten zehn Lebensminuten noch in das herzzerreißende Schreien und Weinen der anderen mit einstimmen wird? Bald darauf wird Stille sein.
Ihre Familie wird von ihrem grausamen Tod erst nach dem Krieg durch den Dominikanerpater Franziskus M. Stratmann erfahren. Er hatte Lisamaria Meirowski in Rom und Holland nahegestanden. 1946 waren die Eltern und der Bruder in die USA weiter emigriert. Der Vater schrieb erschüttert zurück: „Es ist für uns fast unmöglich, über diesen Schlag hinwegzukommen. Alle unsere Gedanken sind Tag und Nacht mit ihr beschäftigt, und alle unsere Sorgen und Kämpfe haben ihren Sinn verloren.“ Sie seien durch die Nachricht seelisch und körperlich zusammengebrochen. „Und leider ist für uns kein Trost gegeben.“ Es sei wirklich ein Wunder, welche Kraft der Glaube seiner Tochter gegeben habe. „Ihr letzter Brief an Pater Frehe ist ein erschütterndes Dokument ihrer inneren Vollendung und Reinheit“, so Emil Meirowski.
Seine Frau Clara wurde noch deutlicher, als die Universität Köln ihrem Mann 1946 angeboten hatte, dort erneut als Professor zu lehren. „Unser Leben ist verändert nach diesem furchtbaren Schlag und hat Wert und Sinn verloren.“ Clara Meirowski schloss kategorisch jede Rückkehr aus: „Wir haben nicht den Wunsch, den Boden Deutschlands jemals wieder zu betreten.“ Die Kölner halten auf jeden Fall die Erinnerung an die Familie wach. Vor dem letzten Wohnort der Meirowskis in der Lindenthaler Fürst-Pückler-Straße 42 haben sie Innerhalb des Gedenkprojekts von Gunter Demnig für die Eltern und Tochter Lisamaria Stolpersteine gelegt. Auf Friedenstauben notierten Schüler dabei ihre Bitten für eine gerechte Welt des Respekts und der Achtung vor den Mitmenschen.
Edith Stein, Lisamaria Meirowskis Begleiterin in den Tod, ist von Papst Johannes Paul II. 1987 selig und 1998 auch heiliggesprochen worden. Die weniger bekannte Meirowski wurde vom Erzbistum Köln zumindest zu einer ihrer Märtyrer in der Zeit des Nationalsozialismus benannt. Sie sei auch unter Terror glaubensfest und eine „kindlich fromme Seele“ geblieben, schrieb Dominikanerpater Stratmann. Lisamaria Meirowski habe „an Glaube, Hoffnung und Liebe viele geborene Katholiken“ übertroffen. Und das auch angesichts des Todes in der Gaskammer.
Weitere Bonner katholische Nazi-Opfer
Der Kölner Prälat Helmut Moll würdigt in seinem Standartwerk „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“, 7. aktualisierte Auflage 2019, neben Lisamaria Meirowski als weitere Bonner christliche Nazi-Opfer: den Schriftsteller Heinrich Ruster, den Gutsherrn Franz Gabriel Virnich, den Pädagogikprofessor Hans Karl Rosenberg, den Medizinstudenten Willi Graf, den Lehrer Joseph Roth, den Philosophieprofessor Johannes Maria Verweyen, den Juristen Randolph Freiherr von Breidbach-Bürresheim, den Steyler Missionar Pater Friedrich Hüttermann und Pfarrer Franz Vaaßen. ham
Ebenfalls im Handel erhältlich: Birgit Formanski, Lebensbilder jüdischer Akademikerinnen, Ausgewählte Medizinstudentinnen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1900 bis 1938, Göttingen 2020, 60 Euro
Erschienen am 13.11.2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Foto: Helmut Moll
Demenz: Wenn der Vater sich leise verabschiedet
Der Berliner Schriftsteller David Wagner ist ab Oktober Bonns Stadtschreiber 2021: Das Buch „Der vergessliche Riese“ über seinen demenzerkrankten Vater siedelt er auch in Bonn an
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Das Vergessen kommt schleichend. Klammheimlich mogelt es sich Aussetzer um Aussetzer in den Alltag hinein. Ein Leben lang hat der Mann Anfang 70 selbstverständlich seinen Wasserzähler im Keller abgelesen. Und jetzt findet er das verdammte Gerät einfach nicht mehr. „Ich spüre seine Verunsicherung, spüre, wie entsetzt er darüber ist, dass sein Gedächtnis nicht funktioniert“, kommentiert in einer Schlüsselszene als Ich-Erzähler der Sohn in David Walters Buch „Der vergessliche Riese“ die offensichtliche Hilfslosigkeit des Vaters. Der Alte flüchtet sich erst einmal in Ablenkungsmanöver. Er versucht, die frühere Schlagfertigkeit aufblitzen zu lassen, wird punktuell aus Überforderung aggressiv, kann aber bald vor der Realität so vieler tagtäglicher Malheurchen nicht mehr fliehen. „Ich möchte nicht mehr allein im Haus wohnen bleiben“, sagt der Mann irgendwann klarsichtig.
Der Sohn wiederum ist sich nicht sicher, ob der Vater mithört, dass sich die Kinder schon leise über weitere Betreuungsmöglichkeiten für den Witwer ausgetauscht haben. Polnische Pflegekräfte leben bald jeweils für ein paar Monate mit im Haus. Hat der Vater aber auch mitbekommen, dass seine Kinder einen Wechsel ins Seniorenheim in Erwägung ziehen und sich vor einem möglichen „Verrat“ fürchten? Er habe richtiggehend Angst, gibt der Vater bald zu: „Davor, dass ich eines Tages gar nichts mehr weiß. Dass ich total verblöde.“ Der Kranke ist über seinen Schatten gesprungen. Das, was ihn und seine Familie belastet, ist ausgesprochen. Es wird 270 mitreißende Buchseiten lang dauern, bis der Mann nach einem der regelmäßigen Besuche des Sohnes sein eigenes Kind schließlich fragen wird: „Freund: Wer sind eigentlich deine Eltern?“
Der Berliner Schriftsteller David Wagner widmet sich hier einem der großen Themen unserer Zeit. Und das hat ihm den Bayerischen Buchpreis eingebracht. Demenz betrifft heute immer mehr Menschen. Die letztlich autobiografische Geschichte vom Vater, der den Kindern einst wie ein unbezwingbarer Riese erschien und jetzt selbst wieder zum Kind wird, dürfte jeden Leser ins Herz treffen. Wagner erzählt sie ehrlich, indem er immer absurder werdende Dialogschleifen zwischen Vater und Sohn akribisch aufzeichnet. „Welche Frau liegt hier nochmal?“, fragt der Alte plötzlich, als sie das Grab seiner verstorbenen Frau besuchen und vorher doch ausgiebig über sie gesprochen hatten. „Ach Papa, lies halt den Namen, er steht doch auf dem Stein“, gelingt es dem Sohn, Ruhe zu bewahren.
Wagner, der ab Oktober Bonner Stadtschreiber 2021 ist, also mit dem Ferdinande-Boxberger-Literaturstipendium des Vereins Lesekultur Godesberg drei Monate lang in Bonn leben und arbeiten wird, siedelt die Geschichte im Bonner Raum an: Der Vater des Ich-Erzählers wird im Buch vom Eigenheim in Meckenheim in ein Seniorenheim in Mehlem ziehen. Jede Menge Lokalkolorit ist also im Buch zu entdecken: Vater und Sohn speisen allzu gerne auf dem China-Restaurantschiff am Beueler Ufer, sind in der Godesberger und der Bonner City und besonders gerne am Rheinufer unterwegs. Bonner Lesern ist das Buch also zusätzlich eine Fundgrube. Der 1971 in Andernach geborene Autor, der seit 30 Jahren in Berlin lebt, sieht seine ehemalige Universitätsstadt aus interessanter Perspektive.
Wagner erzählt die Geschichte des unaufhaltsamen Vergessens aber auch geduldig, berührend und gleichzeitig mit leisem Humor und einer wohltuenden Distanz. „Der junge Riese, der dich auf Schultern getragen hat, kommt nicht zurück“, stellt der Ich-Erzähler die Schwester, die immer noch den starken Vater, den in der Familie scherzhaft „Valentino“ gerufenen Herzensbrecher, vor sich sieht, vor vollendete Tatsachen. Dass der einst so platzgreifende Vater sich langsam geistig verabschiedet, schmerzt auch den Sohn. Aber es gelingt ihm, von Besuch zu Besuch eine neue, eine kostbare Verbindung aufzubauen, in der der Kranke, dem seine Lebensdaten abhandenkommen, seine Würde behalten darf. Und in der sich die Zeitschichten langsam verschieben.
„Ich weiß, wo wir sind – aber nicht mehr genau, in welcher Zeit, jetzt oder vor vielen Jahren“, kommentiert nun sogar der Sohn die Ausflüge mit dem Vater an Stätten der Vergangenheit. Was aber letztlich inzwischen egal ist. Auch für den Sohn in seiner neuen Rolle dessen, der den einst riesenhaften Vater an die Hand nehmen muss, zählt nur noch das Jetzt. Die Verwundungen, die sie sich in einem turbulenten Familienleben zufügten, treten in den Hintergrund. Jetzt gilt nur noch die Freude in den Augen des Mannes, der sich von der Realität verabschiedet, wenn dieser jüngere „Freund“ ihn regelmäßig besuchen kommt. „Du lebst im Moment, Papa, im Hier und Jetzt und immer nach Gefühl. Das hat auch sein Gutes“, resümiert der Sohn für den Vater. Sätze des meisterlichen Buches wie diese haben sicher für jeden, dem das Thema dementielle Veränderungen Ängste bereitet, sogar etwas Heilendes.
Wagner, der 2020 schon einmal in Bonn in der Katholischen Familienbildungsstätte las, hat den „Vergesslichen Riesen“ mit einer Stilmischung geschrieben, die ihn schon in früheren Büchern auszeichnete. Das eigene Leben diene ihm als „Steinbruch“ für die Literatur, letztlich seien seine Bücher aber Fiktion, erläutert der Autor, der Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland ist, seine Arbeitsweise. Im 2000 erschienenen Debütroman „Meine nachtblaue Hose“ schilderte er, der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bonn, Paris und Berlin studierte, seine Kindheit im Rheinland der 1970er und 1980er Jahre. Im Roman „Leben“ (2013) verarbeitete er seine Erfahrungen einer Organtransplantation. Für das Buch, das die Frankfurter Allgemeine Zeitung „das literarische Ereignis des Frühjahrs“ nannte, erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse.
An autobiographisch-fiktionales Schreiben schließt Wagner auch mit seiner neusten Veröffentlichung an: „Verlaufen in Berlin“ dürfte mit den gut zwei Dutzend literarischen Spaziergängen des leidenschaftlichen Städteflaneurs ein „Festessen“ für alle Berlin-Liebhaber sein.
Im Handel erhältlich:
David Wagner, Der vergessliche Riese, Rowohlt Verlag 2019, 12 Euro; David Wagner, Verlaufen in Berlin, Verbrecher Verlag 2021, 16 Euro
Erschienen am 25.09.2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Foto: Linda Rosa Saal
Am Ende des Lebens: Sterben im Hospiz
„Wir ermöglichen schwerstkranken und sterbenden Gästen noch eine gute Lebensqualität. Und das mit sehr viel Zuwendung, mit guter medikamentöser Unterstützung und vielen Spezialhilfsmitteln“, erklärt Marita Haupt, die Leiterin von Bonns einzigem stationären Hospiz.
Eine Reportage über die so wichtige Arbeit für Menschen am Ende des Lebens. Und nicht zuletzt auch für ihre Angehörigen.
Erschienen am 13.08.2021 in: General-Anzeiger Bonn
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/waldkrankenhaus-in-bad-godesberg-sterbebegleitung-im-hospiz_aid-62088823
Ein Event: Der "Hauptmann von Köpenick" 1908 in Bonn
1908 vermochte sich ein kleiner Gauner auch in Bonn als Star zu verkaufen. Im Wirtshaus Ruland riss man sich jedenfalls um die Fanartikel eines arbeitslosen Schusters, den Carl Zuckmayer 1931 "verewigen" sollte.
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Bonn. Dieser Bonn-Besucher vom 26. November 1908 hatte es faustdick hinter den Ohren. „Sensation!“, schrieb tags darauf auch der General-Anzeiger Bonn über das Gastspiel des Mannes. Eine große Menschenmenge habe es doch wirklich für nötig gehalten, diesen älteren grauhaarigen Herrn mit Stirnglatze und dichtem Schnäuzer, der vormittags im Bonner Bahnhof eingefahren war, zu empfangen, so der GA damals. Der „Hauptmann von Köpenick“ sollte das sein, raunte die Menge. Der "Hauptmann" habe sich jedenfalls daraufhin ins damalige Wirtshaus Ruland in die Stockenstraße begeben und daselbst Hof gehalten. Ansichtskarten von sich habe er rundherum auf den Tischen ausgelegt, die sofort neugierig beäugt wurden. Daraufhin habe der Mann sie stolz mit seiner Widmung versehen. Auch ein „Sekretär“ wieselte herum.
Bald sei „der Hauptmann“ von einer hundertköpfigen Menge belagert gewesen, so der GA. Doch „gleich darauf erschien ein höherer Polizeibeamter, der sich erkundigte, ob man auch den `Echten` vor sich habe“, schilderte der Reporter die Szene. Der „Herr Hauptmann“ habe aber postwendend die Bedenken „über seine Echtheit durch Vorzeigung seiner Legitimationspapiere“ generös zerstreut und erklärt, „dass er nur deshalb Bonn mit seinem Besuch beehrt habe, weil ihm zu Ohren gekommen sei, dass hier vor etwa 14 Tagen ein `falscher Hauptmann` sein Unwesen getrieben habe.“ Soweit der erste Bericht zur „Sensation“ von 1908. GA-Leser Klaus Rick hat die Artikel für diesen Beitrag ausgegraben.
Der Prominente mit dem Schnäuzer, der der Rheinstadt im Winter 1908 die Ehre erwies, hieß Wilhelm Voigt, war Schumacher und hatte zwei Jahre zuvor im Ort Köpenick vor den Toren Berlins mit einem Schlag internationale Berühmtheit erlangt. Am 16. Oktober 1906 war er dort nämlich mit preußischen Gardisten im Zug eingefahren und ins Rathaus marschiert. Der Mann hatte die Uniform eines Hauptmanns getragen – die er sich zuvor bei einem Trödler besorgt hatte. Voigt war schon früh wegen Diebstahls und Urkundenfälschung mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Den ersehnten Eintritt ins Militär hatte er sich abschminken müssen, war im Gefängnis gelandet und danach nie wieder in Lohn und Brot gekommen.
So musste für den routinierten Fälscher also am 16. Oktober 1906 ein richtig großer Auftritt her. In Uniform hatte Voigt als „Hauptmann von Maltzahn“ eine Wachmannschaft in Plötzensee geleimt und sie unter sein Kommando gebracht. Auf ging es unter dem Kommando „Zur Attacke, marsch, marsch!“ zum Köpenicker Rathaus. Die Telefonkontakte wurden gekappt. Der völlig überrumpelte Bürgermeister wurde mit weiteren Beamten festgenommen und in Kutschen nach Berlin gesteckt. Danach war dem Schuster die gesamte Stadtkasse ausgehändigt worden - mit der der Gauner sich erst einmal vom nobelsten Herrenausstatter Berlins angemessen einkleiden ließ. Bis ihn ein früherer Mithäftling verpfiff. Voigt landete mal wieder hinter Schloss und Riegel, war aber zur Legende geworden: als kleiner arbeitsloser Handwerker, der dem preußischen Obrigkeitsstaat eine lange Nase zeigte. 1931 sollte Carl Zuckmayer darüber ein sozialkritisches Theaterstück uraufführen, das dem Kabinettstück Voigts nicht zuletzt durch die Verfilmung der 1950er Jahre mit Heinz Rühmann ein Denkmal setzte.
Zurück zum 26. November 1908 in Bonn. Vier Jahre Gefängnis hatte Voigt eigentlich erhalten, wegen „unerlaubten Tragens einer Uniform, Vergehens gegen die öffentliche Ordnung, Freiheitsberaubung, Betruges und schwerer Urkundenfälschung“, wie GA-Leser Klaus Rick, der vormalige stellvertretende Verwaltungseiter der Justizvollzugsanstalt Bonn, mit dem Berliner Originalurteil belegt. Schon nach zwei Jahren war Tausendsassa Voigt aber wieder frei – und ging mit seinem „Sekretär“ auf Tournee durch Deutschland und die Nachbarländer, bevor er 1922 verarmt in Luxemburg sterben sollte. Bonn war nach der Haft eine der ersten Stationen des „richtigen Hauptmanns“, aus dessen Ruhm dann eben noch ein paar weitere Hochstapler Kapital schlugen.
Die Bonner Polizei jedenfalls tauchte noch ein zweites Mal im Wirtshaus Ruland auf, schrieb der GA in einem weiteren Artikel. Unübersehbar war, dass der prominente Besucher seinen Fans die Autogrammkarten und Scherzpostkarten mit Grüßen „vom Räuber-Hauptmann a.D.“ für Geld verkaufte. Weshalb ihn die Beamten nach einem Verhör wegen "Sichzurschaustellens" aus der Stadt schmissen. „Der Hauptmann und sein Begleiter verließen denn auch bald die ungastliche Stätte und begaben sich über die Rheinbrücke nach Beuel“ zum Bahnhof, schrieb der GA. Es gab noch genug andere Städte, in denen sich die Fanartikel verkaufen ließen.
Erschienen am 07.08.2021 in: General-Anzeiger Bonn
https://ga.de/bonn/stadt-bonn/wie-ein-gauner-als-hauptmann-von-koepenick-bonn-besuchte_aid-61319981
Kanadas bitteres Erbe: Das Sterben der indigenen Kinder
Kürzlich wurden auf dem Gelände mehrere ehemaliger kanadischen Umerziehungsinternate für indigene Kinder fast tausend anonyme Gräber gefunden: Das grausame Kapitel christlicher Missionsgeschichte ist auch Thema eines gerade auf Deutsch erschienenen Romans
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Richard Wagamese hat vom Tod indigener Kinder in den Umerziehungsschulen Kanadas gewusst. Und der bekannte kanadische Schriftsteller, der selbst aus der Urbevölkerung stammte, hat schon 2012 über das tragische Leiden und Sterben im einst menschenverachtenden Erziehungssystem seines Heimatlandes unmissverständlich geschrieben – neun Jahre, bevor nun Ende Mai 2021 die Gebeine von 215 toten Kindern auf dem Gelände einer dieser ehemaligen meist katholischen „Residential Schools“ in der Provinz British Columbia entdeckt wurden. Die jüngsten Opfer waren nur drei Jahre alt. Vor einer Woche wurden in der Provinz Saskatchewan auf dem Terrain einer Ex-Schule mindestens weitere 750 unmarkierte Gräber indigener Kinder gefunden – und am vergangenen Mittwoch, wieder in British Columbia, 182 weitere Gräber, an einem vergleichbaren Ort. Ob auch dort indigene Kinder verscharrt liegen, muss noch geklärt werden. Die schockierenden Nachrichten ging durch die Weltpresse.
UN-Menschenrechtsexperten fordern aktuell von der kanadischen Regierung und dem Vatikan sofortige Aufklärung über die Taten an der von 1890 bis 1978 betriebenen Schule in Saskatchewan. Sie verlangen Untersuchungen an allen anderen knapp 3000 entsprechenden Einrichtungen. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Kanadas Premier Justin Trudeau wiederum macht der katholischen Kirche schwere Vorwürfe. Sie sei ihrer Verantwortung nie gerecht geworden und widersetze sich einer rückhaltlosen Aufklärung. 1998 hatte sich Kanada schon einmal für die in den Spezialinternaten ausgeübte Gewalt an indigenen Kindern entschuldigt. Eine „Wiedergutmachungskommission“ wurde eingerichtet, die bald von „kulturellem Völkermord“ sprach.
Nach den Entdeckungen vom Mittwoch ordnete Trudeau halbmast für die Nationalflagge am Parlament an. Schon zuvor hatte er gefordert, die Kirche müsse alle Dokumente zu ihren für den kanadischen Staat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betriebenen Umerziehungsschulen freigeben und die Opferangehörigen entschädigen. Eine Antwort Roms steht aus.
Richard Wagamese hat Taten wie diese 2012 auf jeden Fall schon fiktional beschrieben. Und zwar in seinem Roman „Indian Horse“, der kürzlich erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der gefrorene Himmel“ erschien. An der „Residential School“ des Romans beobachtet der gerade aus seiner indianischen Familie gerissene Ich-Erzähler Saul White Horse entsetzt, wie die Kinder um ihn herum an allen nur möglichen nicht behandelten Krankheiten und vor allem „an gebrochenem Herzen“ sterben. Sie werden von Nonnen und Patres unter Strafe gezwungen, ihre Kultur und Religion abzulegen und die Traditionen europäischer Einwanderer anzunehmen. „Der Herrgott ist jetzt dein Vater. Du hast keine Wahl“, werden Neulinge angedonnert. Wer nicht spurt, wird mit dem Riemen in die Kniekehlen geschlagen, bis er sich ergibt.
Der Junge Curtis White Fox bekommt den Mund mit Laugenseife ausgewaschen, als er es wagt, die Sprache seiner Ahnen zu sprechen, und erstickt noch im Klassenzimmer daran. Die selbstsichere Sheila Jack wird gebrochen, indem man sie zwingt, laufend den Katechismus aufzusagen, bis sie im Irrsinn endet. Der behinderte Arden Little Light schafft es nicht, seine ewig laufende Nase mit einem Taschentuch im Zaum zu halten. Da stellen ihn die Nonnen mit auf den Rücken gebundenen Händen vor den anderen Kindern an den Pranger – bis sie ihn eines Morgens an einem Dachbalken aufgehängt finden. Und Perry Whiteduck, der immer fliehen will, landet für zehn Tage und Nächte in der gefürchteten „Eisernen Schwester“ im kalten Schulkeller, da, wo die Ratten die Kinder anzufressen beginnen. Er taucht nie mehr in der Klasse auf. „Ich begriff nie, wie der Gott, der nach ihrer Botschaft über uns wachte, den Blick abwenden und solche Grausamkeiten, solches Leid ignorieren konnte“, lässt Wagamese seinen Buchhelden aufschreiben.
Denn der blickt in dem ohne jede Rührseligkeit bildreich und eindringlich geschriebenen Roman als Mittdreißiger in Therapie auf sein verpfuschtes Leben zurück. Der einst aus seiner indigenen Weiß-Pferd-Familie entführte Saul hat alle Höhen und Tiefen hinter sich. Aus dem Trauma der Umerziehungsschule hat ihn nur befreit, dass sich ein freundlicher Pater seiner annahm und den sportlichen Jungen für Kanadas Eishockey entdeckte. Die Flucht in den Nationalsport verhilft dem hoffnungslos entwurzelten Jungen zur ersten Bestätigung. Mit 18 Jahren legt er eine kurze glänzende Karriere hin.
Wagamese gelingt es faszinierend, den Zauber dieses ebenso eleganten wie ruppigen Kampfes um den schwarzen Puck in Sprache zu fassen. Auf dem „gefrorenen Himmel“ des Eises könnte das Leben des Helden eine positive Wendung nehmen. Wenn ihn, den Außenseiter im in jeder Hinsicht weißen Sport, nicht die rassistische Diskriminierung durch Konkurrenten und Publikum aus dem Gleis werfen würde. Saul White Horse verfällt dem Alkohol wie so viele seiner indigenen Schwestern und Brüder im heutigen Kanada. Und erst in Therapie gelingt es ihm, den Schopf aus dem Sumpf zu ziehen: indem er sein Leben aufschreibt und sich dabei zwingt, an die Stätten seiner größten Qual zurückzugehen.
Da steht er also nach Dreiviertel des Romans zum ersten Mal wieder auf dem Gelände des verfallenen Internats. Herabgelaufene Farbe an den Wänden sieht wie Blut aus. Von drüben grüßt das „Indianerfeld“, da wo alle die Kinder liegen, die sich irgendwann selbst mit dem Zinken einer Mistgabel aufgespießt haben oder in mit Steinen gefüllter Kleidung ganz ruhig ins Wasser eines Sees gingen. Das habe nie aufgehört, „solange sie weiter Indianerkinder aus der Wildnis und aus den Armen ihrer Familien“ gezerrt hatten, erkennt der Erzähler und beginnt zu weinen – und sich plötzlich an sein eigenes Los zu erinnern.
Er spürt noch nach Jahrzehnten die Hand des einzigen Paters, der sich um ihn gekümmert hat, wie die ihm hinten im Stall die Hose herunterzieht. Wie „das Fummeln, das Zupfen, das Ziehen und Lutschen“ beginnt, das erst aufhört, wenn der Mann das Priestergewand wieder richtet. „Schmutzig, widerwärtig, krank“, ja mitschuldig fühlte er selbst sich damals, weiß der erwachsene Saul plötzlich wieder. Und nur Eishockey wird ihm, dem Opfer, helfen, die bösen Erinnerungen zeitweise zu verdrängen. „Davonfliegen und niemals wieder auf der verbrannten Erde meiner Kindheit landen müssen“, das sei damals sein einziges Lebensziel gewesen. Bis er die Wut und den Zorn über den erlittenen Missbrauch nicht mehr wird abblocken können - und sich sein einziger Gönner Jahrzehnte danach als Täter entpuppt.
Der Schriftsteller Richard Wagamese ist 2017, fünf Jahre nach Erscheinen des Buches, 62-jährige gestorben. Er hat noch miterleben können, dass Hollywood-Legende Clint Eastwood dieses so bittere Meisterwerk über das böse koloniale Erbe Kanadas als Produzent filmisch anging. 2017 ging das Drama unter dem Titel „Indian Horse“ in die Kinos. Aktuell wird die todtraurige Geschichte des Gequältwerdens und Sterbens indigener Kinder dank der Herausgabe hierzulande wieder neu erzählt. Das Schicksal der Kinder hat den Autoren selbst übrigens indirekt betroffen. Denn letztlich erzählt er im Roman das lebenslange Leiden seiner Eltern am Kindsein in den Umerziehungslagern und seine eigene Verlorenheit: Wagamese konnte Mutter und Vater nur als gebrochene Menschen in Erinnerung behalten.
Im Handel erhältlich: Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel, Blessing Verlag 2021, 22 Euro.
Erschienen am 03. Juli 2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
https://ga.de/news/politik/ausland/roman-verarbeitet-tod-indigener-kinder-in-kanada_aid-60593391
Foto: Zwangs-Umerziehung zur „Zivilisation“ am Beispiel eines indigenen Jungen. Das Bild stammt aus dem Völkerkundemuseum in Ottawa . Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
NS-Schulgeschichte in Bonn: Anpassung oder Widerstand?
Seit seiner Facharbeit am Bonner Privatgymnasium Pädagogium (Päda) lässt Christian Hüttemann das Thema NS-Schulgeschichte nicht mehr los. Inwieweit haben also Päda-Ehemalige und Nazi-Größen wie Adolf Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß Einfluss auf diese Otto-Kühne-Schule gehabt? Allein vier Ex-Erzieher und -Schüler standen in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen vor Gericht.
Inwieweit schützte das Päda aber auch NS-kritische Mitarbeiter und jüdische Schüler?
Und warum fordert Hüttemann heute eine Umbenennung der Professor-Dennert-Straße in Bonn-Bad Godesberg? Auch der Naturforscher Eberhard Dennert war Päda-Lehrer und äußerte schon in den 1920er Jahren antidemokratische und antisemistische Hetze.
Erschienen am 16. Juni 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Rudolf Heß 1933 beim Besuch seiner ehemaligen Schule Päda. Repro: Ebba Hagenberg-Miliu
Zwangsarbeiter: Gehängt, weil sie deutsche Frauen liebten
Von 1940 bis 1945 wurden in Deutschland polnische Zwangsarbeiter gehängt, ohne Gerichtsverfahren, ohne jede Verteidigung. Der Grund: Sie liebten einheimische Frauen.
Wie haben Menschen wie sie bis 1945 in Bonn gelebt?
https://ga.de/bonn/beuel/in-beuel-hingerichtet-weil-sie-deutsche-frauen-liebten_aid-58101531
Erschienen am 27. Mai 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: im Artikel: Landesarchiv NRW/Julius Radermacher
Ende einer Ära: Aus für evangelische Tagungen in Godesberg
Mit dem Auszug des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands (CJD) und des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Evangelischen Kirche im Rheinland aus ihrem Tagungshaus in Bonn-Bad Godesberg geht dort nach vielen Jahrzehnten "eine evangelische Ära" zu Ende. 2016 hatte schon die Evangelische Akademie im Rheinland gehen müssen.
Erschienen am 26. Mai 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Identitätsdebatte: Wer darf über den Holocaust schreiben?
Einer der wichtigsten Initiatoren jahrzehntelanger Holocaust-Aufarbeitung in Bonn outet sich - von sich aus - als Sohn eines SA-Blockwarts : Die identitätspolitische Diskussion lässt grüßen. Der Historiker Manfred van Rey steht dazu Rede und Antwort. Spannend!
Erschienen am 19. Mai 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Thomas de Padova: Neues vom Bonner Stadtschreiber 2019
In Bonn hat Thomas de Padova als Stadtschreiber 2019 einige Kapitel seines jetzt erschienenen neuen Buches "Alles wird Zahl" geschrieben. Auf den Spuren Leonardo da Vincis und Albrecht Dürers - am Rhein.
Erschienen am 118. Mai 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Aloisiuskolleg: Was wird aus der Ex-Internatsvilla?
„Wir sind bei der Vorbereitung, die Villa Stella Rheni über einen Makler anzubieten." Aktuell werde sie in Zusammenarbeit mit einem Event-veranstalter vermietet, "da wir auf Mieteinnahmen für die Schule angewiesen sind." (Ako-Rektor Pater Martin Löwenstein).
"Der Verkauf eines durch sexuellen Missbrauch über Jahrzehnte so stark belasteten Gebäudes darf nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Es muss ein Gedenkort auf dem Parkgelände oder an der Stella bleiben." (Heiko Schnitzler, Opferverein Eckiger Tisch Bonn)
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/die-stella-rheni-koennte-verkauft-werden_aid-58012099
Erschienen am 10. Mai 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Nana Oforiatta Ayim: Geborgen und doch nicht zugehörig
"Das Flair der Jahrzehnte, als in Bonns Diplomatenstadtteil Bad Godesberg das Herz der weltoffenen Bundeshauptstadt pochte, als die exotisch gekleideten Vertreter ferner Länder über den Theaterplatz flanierten, ist im ersten Teil dieses Romans sofort spürbar. Die von vielen im Nachhinein verklärten Jahre, als Diplomatenfrauen in Kaufhäusern gleich einen ganzen Schwung Modeartikel kauften, klingen nach."
Die Kunstkuratorin Nana Oforiatta Ayims lässt in ihrem ersten Roman Erinnerungen aufleben. Es ist auch ein Rückblick in die 1980er Jahre, als Diplomatenfamilien wie die ghanaischen Baffoes Godesberg mitprägten.
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/geborgen-und-doch-nicht-zugehoerig_aid-57751503
Erschienen am 6. Mai in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Cezar Miliu
Nötiger als vorher: Entwicklungshilfe in der Pandemie
Ziviler Friedensdienst in Corona-Zeiten:
Eine aktuelle Studie zeigt, dass Fachkräfte vor Ort noch nötiger gebraucht werden als zuvor. Wie etwa der Friedensdienstler Christoph Schlimpert, der vom Bonner Personaldienst AGIAMONDO nach Sierra Leone geschickt ist.
Erschienen am 21. April 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: privat
Hans Karl Rosenberg: Kein Arzt wollte ihm mehr helfen
Der Nazikritiker und bekennende Katholik Professor Hans Karl Rosenberg starb am 17. April 1942 in Bad Godesberg
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Bad Godesberg. Am 17. April 1942 müssen sich verzweifelte Szenen in der Gneisenaustraße 16 abgespielt haben. Der 51-jährige promovierte Philosoph Hans Karl Rosenberg lag am Herzen schwerkrank darnieder und hätte unbedingt medizinische Hilfe gebraucht. Doch Ehefrau Anna-Maria und die vier halbwüchsigen Töchter mühten sich vergebens, einen Arzt ans Krankenbett zu holen. Zu einem nach der Ideologie der Nationalsozialisten so beschimpften „Halbjuden“, zumal noch zu einem, der das Terrorregime kritisierte, wagte sich kein Mediziner zu kommen. Somit hatte Rosenberg keine Überlebenschance: Er starb jämmerlich „an den Folgen eines ärztlichen Nicht-Beistandes in seiner Wohnung“, wie Prälat Helmut Moll, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für katholische „Zeugen für Christus“, es 2019 in seinem gleichnamigen Buch schrieb.
Da hatte der 1891 in Köln in eine Lehrerfamilie hineingeborene Rosenberg schon ein jahrelanges Martyrium in Bad Godesberg hinter sich. 1930 war er auf die Stelle eines Professors an der Pädagogischen Akademie an seinen Studienort Bonn zurückgekehrt. Zahlreiche Veröffentlichungen wiesen ihn als betont katholischen Gelehrten und Publizisten aus. Die junge Familie lebte anfangs an der Friesdorfer Hochkreuzallee 165. Rosenberg engagierte sich im Kirchenvorstand von St. Servatius. Er stand politisch der von den Nazis bald verbotenen Zentrumspartei nah und sah frühzeitig die Apokalypse auf Deutschland und die Welt zukommen. So warnte er als Redner auf diversen auch internationalen Katholikentagen vor dem aufkommenden Nationalsozialismus. Bis 1940 sollte der mutige Mann in Vorträgen, etwa im Bonner Gesellenverein, kein Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der NSDAP, der „Partei der Gottlosen“, machen, hat Moll recherchiert.
Da hatten die Nazis zumindest sein berufliches Leben schon längst zerstört: 1933 hatten sie ihn, dessen jüdischer Vater schon als junger Mann zur katholischen Kirche gewechselt war, aus rassischen Gründen aus seinem Professorenamt gejagt. 1935 erfolgte das Verbot schriftstellerischer Tätigkeit. Jetzt konnte Rosenberg, der im Ersten Weltkrieg als schwerverwundeter Soldat mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, nur noch unter Pseudonym veröffentlichen, um seine Familie überhaupt zu ernähren. Seiner Frau riet man dringlich, sich, angeblicher Rassenschande wegen, von ihm scheiden zu lassen. „Sein Haus wurde streng überwacht und jeder Kontakt zu Freunden und Bekannten unterbunden“, schreibt Josef Roth, der Enkel des mit Rosenberg damals befreundeten Friesdorfers Joseph Roth, der ebenfalls Opfer der Nazis wurde (der GA berichtete). Die letzte Lebenszeit beider war von Schikanen und Denunziationen überschattet. Sie sprachen sich nur heimlich.
Rosenberg versuchte 1939 noch durch einen Umzug nach Plittersdorf, den Bespitzelungen in Friesdorf zu entkommen. Doch seine Kräfte, sich als bekennender Katholik und Nazi-Feind des Psychoterrors zu erwehren, waren am 17. April 1942 aufgebraucht, als keine Ärzte ihm beistehen wollten. Zwei Jahre später klingelte dann doch noch jemand an der Tür nach ihm: Zwei SS-Männer wollten „Hans Israel Rosenberg“ abholen. Seine Witwe zeigte ihnen den Weg zum Zentralfriedhof.
Im Handel erhältlich: Helmut Moll, Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Schöningh Verlag 2019, 2 Bände, 99 Euro.
Josef Roth, Joseph Roth. Bonner Widerstandskämpfer und Märtyrer, BonnBuch Verlag 2020, 18,50 Euro
Erschienen am 17 .April 2021 in: General-Anzeiger Bonn
Foto: Archiv Dr. Helmut Moll
Heinrich Mann: Nicht nur "der Bruder von Thomas"
Zum 150. Geburtstag am 27. März :
Heinrich Manns Roman "Der Untertan“ von 1918 wirkt heute regelrecht prophetisch. Der Mann vom Typus seiner Hauptfigur Diederich Heßling hat nicht nur zum Desaster des Ersten Weltkriegs geführt. Er hat auch dem Terror des Dritten Reichs sowie der Apokalypse des Holocaust und des Zweiten Weltkrieg den Weg bereitet.
Erschienen am 27. März 2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Augustus Buchner: Ein Barockdichter in Corona-Zeiten
Vor 430 Jahren wurde der Barockdichter Augustus Buchner geboren – und irgendwann vergessen. Warum geben zwei Literaturkenner gerade heute erstmals eine Gesamtausgabe seiner Lyrik heraus?
Von Ebba Hagenberg-Miliu
„Unser Leben ist ein Meer,“
beginnt ein Wittenberger Professor des 17. Jahrhunderts eins seiner Gedichte.
„Die Begierden sind die Wellen, /
Die sich grausamlich aufschwellen /
Und uns werfen hin und her“,
reimt er seine erste Strophe. Dieser Augustus Buchner (1591-1661) lehrt im Hauptberuf Poetik und Rhetorik und hat die bekanntesten Schriftsteller seiner Zeit in seinen Vorlesungen sitzen: etwa Simon Dach, Paul Fleming und Paul Gerhardt. Nebenbei schmiedet er selbst Verse, die jedoch im Laufe der Zeit vergessen werden: Einmal stirbt ein Herausgeber kurz vor der Drucklegung. Und auch ein zweiter Versuch scheitert. So überlebt Buchner zwar neben seinem Freund Martin Opitz als Autor bedeutender Lehrbücher des Barocks, aber eben nicht als Dichter. Erst jetzt haben mit Gerd Hergen Lübben und Wulf Segebrecht zwei heutige Germanisten seine „Deutschen Gedichte“ erstmals vollständig herausgegeben.
Und damit auch das Gedicht von „Der Christen Schifffahrt“, in dem das lyrische Ich auf dem unruhigen Meer des Lebens mit all seinen Stürmen, Verletzungen und Todesängsten inständig nach einem versierten Steuermann und starken Anker sucht. Buchner als Mensch des 17. Jahrhunderts findet diesen Anker im Glauben und im Streben nach einer „weisen Seele“. Dem „offenbaren Tod“ entkomme nur der, der sich auf beide besinne. Noch heutige Kirchgänger haben da sicher das immer noch beliebte, weil besser überlieferte Adventslied von Buchners Zeitgenossen Daniel Sudermann im Ohr, das „Es kommt ein Schiff geladen“ mit den Zeilen: „Das Segel ist die Liebe / der heilig Geist der Mast“. Dieses Lied dürfte damals auch der dichtende Herr Professor aus Wittenberg gekannt haben.
Eines ist natürlich für heutige Leser offensichtlich: Die Ausdrucksweise Buchners klingt seltsam antiquiert, zumal die Herausgeber die Orthografie nur sanft modernisieren. Die Reime wirken hoffnungslos altmodisch. Doch die 400 Jahre alte Botschaft kann durchaus auch im Jahr 2021 ein Angebot sein, sich in Zeiten von Corona-Bedrohung und Todesangst seines eigenen Lebensankers bewusst zu werden, vielleicht sogar Trost und Ermutigung zu finden. Denn während wir heute über die Einschränkungen des Corona-Lockdowns ächzen und überzeugt sind, in schwersten Zeiten seit dem Zweiten Weltkrieg zu stecken, waren die Probleme eines Augustus Buchner und seiner Zeitgenossen ungleich handfester. Da saß den Menschen nach dem Wüten der Pest im 14. Jahrhundert zum Einen die Angst vor weiteren Ausbrüchen des Schwarzen Todes noch in den Knochen.
Zum anderen entvölkerte in der Lebenszeit Buchners zwischen 1618 und 1648 der Dreißigjährige Krieg erneut ganze Landstriche: durch brutale Schlachten, Hungersnöte und weitere Seuchen. Der Tod war allgegenwärtig. Die Vergänglichkeit, also das Memento-Mori-Thema, bestimmte das Lebensgefühl. Die Barockdichter nahmen es auf. Und fassten auch die Folge daraus, die Idee des „Carpe diem“, in Literatur, den Appell also, den Tag zu nutzten, ihn auch angesichts des Sterbens bewusst zu leben. Auch Buchner hat in vielen seiner Gedichte geliebte Tote beklagt, über das Winseln und Heulen berichtet, wenn der Sensenmann wieder zugeschlagen hatte. Er hat von „Angst und Kummer“ geschrieben, von der Sorge, „was noch über uns wird geh`n“. Aber er hat sich auch am Riemen gerissen. Er wolle „nicht klagen ohne Maß und Ruh`“, sondern seinen Kummer stillen und sich und andere „zur Weisheit führen“. Und vor allem wolle er antreten gegen „Fressen, Saufen, Gott verlachen … Morden, Rauben, Beute machen“, die beliebten Sünden nicht nur seiner Zeit ( „Trostgesang“).
Die Gedichte Buchners beeindruckten immer noch durch die Leiderfahrungen des 17. Jahrhunderts, durch die Duldungsbereitschaft und Glaubensstärke, die in ihnen zutage trete, erklärt Mitherausgeber Gerd Hergen Lübben, ein ehemaliger Kulturamtsleiter und Lehrbeauftragter, der jetzt in Bad Godesberg lebt. Die Verse sprächen über Krieg und Frieden, Leben und Tod, Trauer, Verzweiflung und Zuversicht. Sie gäben aber auch Trost, Hoffnung und Ermutigung zu Belustigung und Lebensfreude. „Sie dienen, wenn man sich ihnen zuwendet, der eigenen Selbstvergewisserung“, sagt Lübben. Ja, sie ließen überdies manches mit gegenwärtig und global unentrinnbar erscheinendem Krisenpotential Vergleichbares erkennen. Kurz gesagt: Buchners Gedichte sind alt, aber nicht veraltet.
Deshalb haben die beiden sie also heute erstmals herausgegeben. Lübben ist von den alten Versen fasziniert. Die Spannung zwischen Weltbejahung, Daseinsfreude und Lebenslust auf der einen Seite und Weltverneinung, Jenseitshoffnung und Erlösungssehnsucht auf der anderen spiegelten sich deutlich in den Gedichten, meint er. „Lasset uns schauen“, so beginne das erste Gedicht dieser Sammlung. Darin klinge Liedhaftes an, das ihn lebhaft an den „Leiermann“ von Franz Schubert oder an “Mr. Tambourine Man‟ von Bob Dylan erinnere. Schon Buchners Zeitgenossen hätten aus diesem Gedicht die „Aufmahnung“ herausgelesen, „man solle sich der Zeit gebrauchen / weil sie noch verhanden“. Die Botschaft heißt: Nutze jeden Tag. Die Strophen seien dann 1638 sogar vom Komponisten Caspar Kittel als Generalbass-Quartett publiziert worden. Gestern und heute sind es halt literarische Leckerbissen.
Und die werden von den Feuilletons schon als „eine veritable Entdeckung“ gefeiert. Die Neuerscheinung sei „eine Studienausgabe im besten Sinne dieses Begriffs, die es möglich macht, Augustus Buchner als eine Poetiker und Poeten zu entdecken, dessen Name künftig in einem Atemzug mit denen der kanonischen Lyriker des Barocks genannt zu werden verdient“, meint Herausgeber Lübben. Diese Gedichte ließen sich zudem als Quellen des religiösen Horizontes der Zeitgenossen, als kirchengeschichtlich relevante Texte nutzen. Professor Johannes Schilling, Präsident der Luther-Gesellschaft, sagt jedenfalls über die Gedichte: „Sie bezeugen das Fortwirken lutherischer Theologie in poetischer Gestalt.“
Im Handel erhältlich: Augustus Buchner. Deutsche Gedichte. Herausgegeben von Gerd Hergen Lübben und Wulf Segebrecht. Band 58 der Reihe „Fussnoten zur Literatur”, Bamberg 2020, 16,80 Euro
Erschienen am 14. März 2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Rosa Luxemburg: Die letzte Ikone des Sozialismus
Verehrt und gleichzeitig angefeindet: An der vor 150 Jahren in einer polnischen Provinzstadt geborenen Politikerin Rosa Luxemburg scheiden sich seit jeher die Geister
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Die kleine Frau, die da am 18. August 1907 auf einem wackligen Stuhl zu vielen Hundert Menschen im Stuttgarter Neckarpark spricht, legt sich mächtig ins Zeug. Ohne Mikrophon, aber mit der ganzen Kraft ihres Körpers versucht diese Rosa Luxemburg im züchtig hoch geschlossenen Kleid ihr dicht gedrängtes Publikum zu erreichen. Auf diesem „Cannstadter Wasen“ genannten Areal findet jeden September eine Art Oktoberfest statt. An diesem warmen Augusttag 1907 wird es jedoch kein Volksfest mit Rummel und Schaustellern geben. Mehr als 60.000 politisch interessierte Besucher sind heute versammelt. Und zwar „in musterhafter Ordnung“ um sechs Bühnen, wie die sozialdemokratische Tageszeitung „Vorwärts“ berichtet.
Es ist der Auftakt des Internationalen Sozialistenkongresses, der 884 Delegierte aus 25 Ländern in heiße Debatten über internationale Konflikte und die Kolonialfrage führen wird. Selbst Wladimir Iljitsch Lenin, der Anführer der russischen Bolschewiken, ist angereist. Die Wiesen sind für jedermann geöffnet. Und auf einer der Bühnen beweist Luxemburg unter freiem Himmel ihre rhetorische Schlagkraft. Die Stuttgarter Obrigkeit hat zwar das öffentliche Zeigen von roten Fahnen verboten. Doch als dieses nur 1,47 Meter große Energiebündel zwischen den riesigen ikonischen Bildern von Karl Marx und Ferdinand de Lassalle spricht, werden aus dem Meer der Zuhörer die Fahnen der Arbeiterbewegung hochgereckt. An dieser damals 37-Jährigen auf dem wackligen Stuhl wird in den kommenden zehn Jahren in der sozialistischen Bewegung kein Weg mehr vorbeigehen.
Dabei war der vor 150 Jahren am 5. März 1871 im polnischen Zamosc geborenen Rozalia Luxemburg dieser Erfolg nicht in die Wiege gelegt. Die Provinzstadt stand damals unter russischer Herrschaft. Und als fünftes Kind eines immerhin wohlhabenden Holzhändlers waren die Weichen bescheiden gestellt. Zumal die Kleine mit vier Jahren an der Hüfte erkrankte und aufgrund einer Falschbehandlung eine lebenslange Gehbehinderung davontrug. Was das Kind aber nicht davon abhielt, sich selbst Lesen und Schreiben beizubringen. Zudem hatte es in seiner bildungsbewussten jüdischen Familie das Glück, aufs Mädchengymnasium in Warschau geschickt zu werden. Bald beherrschte Rozalia neben Russisch, Jiddisch und Polnisch auch Deutsch, Latein, Altgriechisch und Französisch. Die Überfliegerin schrieb Gedichte und Novellen – und kam mit regierungskritischen Kreisen in Kontakt.
Die Gruppe, der das Mädchen begeistert beitrat, beschwor die Theorien von Karl Marx und positionierte sich gegen die zaristische Regierung. Die Neue fing sofort Feuer für die Idee, gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu opponieren. Dieser Auftrag sollte sie ihr ganzes Leben lang leiten. Die Folge war für die Abiturientin Rozalia jedoch: Sie musste vor der russischen Geheimpolizei fliehen, um studieren zu können. Im Heuwagen versteckt, verließ sie 1889 für immer die Heimat, um zu Rosa Luxemburg, einer überlebensgroßen Figur ihrer Epoche, zu werden.
Dafür brachte sie aber drei Handikaps mit: Erstens war sie eine Frau, und zwar eine für damalige Verhältnisse verstörend emanzipierte, eine, die politisch aktiv sein wollte, als Frauen noch nicht einmal zu Wahlen zugelassen waren. „Her mit dem Frauenwahlrecht!", sollte Luxemburg sich in den kommenden Jahren nicht scheuen, den vorwiegend männlichen Kollegen entgegenzuschleudern. In Deutschland wurde dieses Recht erst im November 1918 eingeführt, also nur zwei Monate vor Luxemburgs gewaltsamem Tod. Zweitens war diese Frau seit der Kindheit leicht behindert. Sie hinkte. Und drittens stammte sie aus einer jüdischen Familie. Obwohl sie sich selbst ausdrücklich in der ganzen Welt zu Hause fühlte, überall dort, wo es Menschentränen gebe, obwohl die Zeitung „Jüdische Allgemeine“ sie heute als „Israels unwillige Tochter“ bezeichnet, wurde sie in ihrem Leben vielfach antisemitisch beschimpft.
Bis die von ihren Freundinnen als sehr impulsiv und extrovertiert beschriebene Luxemburg es 1907 auf den Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart schaffte, hatte sie jedoch noch einige Hürden zu nehmen. Von Polen aus hatte sie Zürich angesteuert, denn in der Schweiz waren schon seit 1840 Frauen zum Studium zugelassen. Die junge Rosa belegte erst Zoologie, wechselte aber bald zu den Staatswissenschaften und promovierte 1897 in Nationalökonomie. Dabei war die glänzende Rhetorikerin bei einem Doktorvater untergekommen, der als Gegner des Marxismus galt und doch ihre Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens in höchsten Tönen lobte. Julius Wolf schrieb hellsichtig: „Die Verfasserin ist Sozialistin und steht zu der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung." Aber das tue „der Tüchtigkeit der Leistung keinen Abbruch, welche weit darüber hinausgeht, was von einer Dissertation gefordert werden muss." Diese Frau war gereift, brillierte multilingual und bestens belesen. Sie war äußerst diszipliniert und sprachmächtig. Sie fiel sofort auf.
Und das auch in den Schweizer und bald darauf deutschen politischen Kreisen. Denn weil sie die Abschiebung zurück ins Einflussgebiet des zaristischen Russlands fürchten musste, war Luxemburg nach der Promotion eine Scheinheirat mit einem Deutschen eingegangen und in Berlin gelandet. Dort halfen ihr Sozialdemokraten, Fuß zu fassen: „Die Neue“ schrieb für Parteizeitungen wie den „Vorwärts“ und hielt bezahlte Vorträge. Ihre Liebe dieser Zeit galt jedoch weiter dem glühenden Sozialisten Leo Jogiches aus Litauen, mit dem sie in der Schweiz verbunden gewesen war. Seltsam berührt heute der leidenschaftliche, aber untertänige Ton ihrer Liebesbriefe an den als autoritär verschrienen Revolutionär. 1897 schrieb sie ihm: „Wenn sich in meiner Seele so viel Liebe und Leid ansammelt, dann werfe ich mich Dir in die Arme, wenn Du mich mit Deiner Kühle beleidigst, zerreißt es meine Seele, und ich hasse Dich“, um dann fortzufahren: „Mein Goldener, Du verstehst und planst doch immer so gut: Du hast es in unserer Beziehung stets für Dich und für mich.“
Die sonst so bestimmt auftretende Frau konnte also schwach werden. Ihr Ausspruch: „Ich habe verdammte Lust, glücklich zu sein“, spiegelte ihren Lebenshunger. Doch wirkliches privates Glück sollte der Rastlosen nie vergönnt sein. Politisch ließ sie sich jedoch von niemandem die Butter vom Brot nehmen. Ihre Aufsätze und Zeitungsartikel sollten immer scharfzüngiger werden. Während die konservative Presse sich über die „Unterrockpolitik“ weiblicher Akteure lustig machte, tauchte Luxemburg ganz selbstverständlich auf SPD-Parteitagen auf, war Delegierte bei Kongressen der Internationale, also des Zusammenschlusses aller Arbeiterorganisationen, und ab 1903 Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros. Sie lehrte an der Parteischule der SPD in Berlin und unternahm regelrechte Auftrittstourneen. Obwohl Außenseiterin auch in ihrer Partei, riss sie durch ihre geistige Schlagkraft mit. Bewunderer nannten sie „genial“ und „die Göttliche“. Lenin sollte ihr das Etikett „Adler der Revolution“ anheften. Er hatte schon aus Luxemburgs klarsichtigen Artikeln zitiert, bevor er sie überhaupt richtig wahrgenommen hatte.
In ihren zehn letzten Lebensjahren sollte Luxemburg als erbitterte Kämpferin für die Arbeiterklasse noch härter werden. Die Verstaatlichung von Produktionsmitteln, die Bildung von Genossenschaften, die Trennung von Kirche und Staat, kostenlose Schulbildung, all das waren schon immer ihre Ziele gewesen. Sie dachte weit über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus. Jetzt aber entwickelte sie sich vom linken Flügel der SPD, die sie 1917 verließ, zur Mitbegründerin des marxistischen Spartakusbundes und dann der deutschen Kommunistischen Partei. Doch auch hier eckte sie an. In ihren Augen sollte die Erfüllung des Sozialismus nicht gewaltsam vonstattengehen. Luxemburg begrüßte zwar die Oktoberrevolution, warnte aber hellsichtig vor der Diktatur der Bolschewiki. Ihr berühmter Satz: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ ist bis heute populär. Kritiker meinen jedoch, ihre Freiheit habe nur für ihre Anhänger, nicht aber für den „Klassenfeind“ gegolten. Ihren leidenschaftlichen Pazifismus und ihren Aufruf zur Befehlsverweigerung bezahlte sie in ihren letzten Lebensjahren bitter: mit immer neuen Inhaftierungen.
Und dann ereilte diese sicher außergewöhnliche Frau schließlich ein grausamer Tod. Den Ersten Weltkrieg lang war Luxemburg wieder einmal im Zuchthaus weggesperrt gewesen. Und als am 9. November 1918 der Kaiser abdankte und die „Freie Deutsche Republik” proklamiert wurde, als nach dem sinnlosen Abschlachten endlich der ersehnte Frieden greifbar war, hatte die frei gelassene 47-Jährige nur noch ein paar Wochen zu leben. Als „rote Rosa“ war sie verschrien. Gegen sie wurde chauvinistisch und antisemitisch gehetzt. Von Rechtsradikalen wurde sie gejagt. Als sie mit der Spartakus-Gruppe zum Jahreswechsel die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gründete, gehörte sie auch da zur Minderheit derer, die sich den Wahlen zur Nationalversammlung nicht verweigern wollten. Da sei sie schon „eine Tote auf Urlaub“ gewesen, urteilte Willy Brandt 1989 in einem Essay.
Obwohl sie den Anfang Januar 1919 gestarteten Spartakusaufstand der KPD und anderer Gruppen gegen die Regierung wohl nicht guthieß, wurde Luxemburg am 15. Januar 1919 mit ihrem Genossen Karl Liebknecht von einer sogenannten Bürgerwehr in Berlin als „Rädelsführer“ gefangengenommen. In einem letzten Artikel hatte sie noch über die Revolution geschrieben: „Ich war, ich bin, ich werde sein“. Doch nun wurde sie von Mitgliedern eines Freikorps in einem Hotel verhört und misshandelt. Liebknecht wurde auf der nachfolgenden Autofahrt bei einer vorgetäuschten Panne hinterrücks erschossen. Luxemburg erhielt im Wagen einen Kopfschuss. Sie war sofort tot. Ihr Leichnam wurde in den Landwehrkanal geworfen, wo man ihn erst am 31. Mai 1919 barg. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Wer Mitwisser war, wurde nie abschließend geklärt. Die kleine wortgewaltige Politikerin, die selbst auf improvisierten Bühnen ohne heutige Technik Tausende Zuhörer in ihren Bann zog, war verstummt.
Frank Jacob, Albert Scharenberg und Jörn Schütrumpf, die Herausgeber einer just zum 150. Geburtstag Luxemburgs erscheinenden neuen Textsammlung, sehen heute in der Ermordung der „blutigen Rosa“, wie Gegner sie beschimpften, eine „Zäsur der deutschen Geschichte“. Sie begreifen die Schüsse, denen sie und Liebknecht erlagen, als sozusagen die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs. Das Schicksal Luxemburgs, also die „persönliche Niederlage und ihr schrecklicher Tod“, ließen sich dahingehend „als eine Art figurative Vorwegnahme des Schicksals der sozialistischen Bewegung im 20. Jahrhundert“ lesen. Was nach dem 15. Januar 1919 blieb, waren auf jedem Fall Luxemburgs Schriften, die seit gut 100 Jahren immer wieder neue Deutungen erfahren und topaktuell interpretiert werden können, wie es die drei Historiker mit internationalen Kollegen in ihrer Textsammlung zeigen.
Für die Einen bleibt Luxemburg Lichtgestalt und letzte Ikone des Sozialismus, weil sie sich selbst die Hände nicht blutig machte, eine Symbolfigur für die Hoffnung auf einen Dritten Weg, den demokratischen Sozialismus. Für andere ist sie in ihrer letzten Lebensphase jedoch auch „Kronzeugin für das antiparlamentarische und im Kern antidemokratische Ressentiment der Linken gegen die bürgerliche Demokratie“, wie es etwa der Grünen-Politiker Ralf Fücks formuliert. Es wäre sicher spannend gewesen, zu beobachten, welche politische Richtung diese Rosa Luxemburg selbst in den aufwühlenden Jahrzehnten nach 1919 eingeschlagen hätte.
Bertold Brechts spätere Grabinschrift für sie hätte ihr aber sicher gefallen:
„Hier liegt begraben
Rosa Luxemburg.
Eine Jüdin aus Polen,
Vorkämpferin deutscher Arbeiter.
Getötet im Auftrag
Deutscher Unterdrücker.
Unterdrückte.
Begrabt eure Zwietracht!“
Ab 24. Januar 2021 im Handel erhältlich: Frank Jacob, Albert Scharenberg, Jörn Schüttrumpf (Hg.), Rosa Luxemburg. Leben und Wirken. Nachwirken. 2 Bände, Büchner Verlag, Marburg 2021, je 25 Euro.
Erschienen am 27. Februar 2021 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
"Dem Volk" aufs Smartphone geschaut
Die Deutsche Bibelgesellschaft hat der legendären Luther-Bibel die neue, viel leichter verständliche BasisBibel an die Seite gestellt: und zwar als Ergänzung.
Erschienen am 30. Januar 2021 im General-Anzeiger Bonn, Journal:
Foto: Deutsche Bibelgesellschaft
Wo "der Schlächter von Lyon" geboren wurde
Bonns Stadtarchivar Norbert Schloßmacher hat Klaus Barbies Geburtshaus entdeckt: ein 1913 viel gebuchtes privates Entbindungsheim für ledige Mütter im heutigen Bonn-Bad Godesberg.
Der Mann, der hier unter für ihn erniedrigenden Umständen geboren wurde, sollte gut 30 Jahre später u.a. die kleinen Kinder von Lyon-Izieu erbarmungslos nach Auschwitz in den Tod schicken.
Erschienen im General-Anzeiger Bonn:
Foto: Godesberger Heimatblätter
Wie ein Bonner Opfer des Stalinismus wurde
Wie soll man 20 Monate Einzelhaft in der berüchtigten Haftanstalt Berlin Hohenschönhausen beschreiben? Die „Einsamkeit und scheinbare Loslösung von der Zeit“, die endlosen „Zwiegespräche mit der Glühbirne und den nassen Flecken an der Wand“? Die Lebensgeschichte des Ewald Ernst.
Erschienen im General-Anzeiger Bonn:
https://ga.de/bonn/bad-godesberg/bonn-wie-ewald-ernst-aus-bad-godesberg-opfer-des-stalinismus-wurde_aid-54631071
Foto: Gedenkstätte Hohenschönhausen
Holocaust: Als Bürger ihre Mitbürger verrieten
Meine neusten Artikel zu Holocaust-Opfern in Bonn und zur Mitschuld auch Bonner Bürger.
Erschienen im General-Anzeiger Bonn:
Der Bad Godesberger Lehrer Joseph Roth leistete im Dritten Reich Widerstand und wurde Opfer der Nazis. Ein Buch seines Enkels wirft ein neues Licht auf ihn. (Foto: Archiv J. Roth)
Eine Dissertation der Universität München belegt am Beispiel der Stadt Bonn die Mitschuld zahlloser Menschen an der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger ab 1933.
https://ga.de/bonn/stadt-bonn/als-bonner-ihre-juedischen-mitbuerger-verrieten_aid-55125095
Wie schnell sich in einer Diktatur das Netz der Bedrohung über rechtschaffenen Bürgern zusammenziehen kann, das hat ab 1933 der Bonn-Bad Godesberger Gärtnermeister Dietrich Glauner erlebt – und heimlich in seinem Tagebuch festgehalten.
Das Schicksal des kleinen Micha Sternschein: Erst verschwanden die jüdischen Mitbürger während der Naziherrschaft aus den Straßen und dann aber auch aus dem Bewusstsein der Nachbarn.
https://ga.de/bonn/beuel/das-leben-der-juden-in-beuel-waehrend-der-nazi-zeit_aid-55687977
In Bonn-Bad Godesberg erinnern fünf neue Stolpersteine an Henriette, Karoline, Julie, Theodor und Martha Oster. Die Familie wohnte bis Januar 1942 in Bad Godesberg, bis sie in „Judenhäusern“ in Köln und Endenich interniert und in Konzentrationslagern umgebracht wurde.
Der Mord zum Sonntag. 50 Jahre TV-"Tatort"
Vor 50 Jahren ging nach der "Tagesschau" in der ARD der erste „Tatort“-Fernsehkommissar auf Verbrecherjagd
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Die Tagesschau war am 22. November 2020 gerade vorbei, da lag im Ersten TV-Programm nach zehn Filmminuten schon der erste Tote blutverschmiert auf der Landstraße. So weit, so gut im letzten „Tatort“ vor dem 50-jährigen Jubiläum der ARD-Serie am 29. November, möchte man meinen. Der gerade brutal Überfahrene war ein neureicher Gebrauchtwagenhändler mit 2,3 Promille im Blut – der jedoch haargenau wie der hessische „Tatort“-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) aussah. Und der, da er auch noch in dessen Kleidung steckte, bald darauf als Murot begraben werden sollte.
Womit der Plot dieser Folge von Deutschlands liebster Sonntagabend-Serie wieder mal ins Exzentrische abgebogen war. Denn der feingeistige Herr Kommissar, der eigentlich im Urlaub weilte, ging nun unvermittelt im prolligen Hawaiihemd des Getöteten auf Tätersuche. Und musste, undercover, seiner eigenen Beerdigung beiwohnen. Murots Blick auf die klägliche Schar Trauernder sprach Bände: „Viele sind ja nicht gerade gekommen“, seufzte der notorische Einzelgänger.
Das hieß aber nun nicht, dass die Folge vom 22. November nicht hochspannend gewesen wäre. Nur elektrisierten hier keine Explosionen oder wilde Verfolgungsjagden, zu denen der bejahrte Murot auch kaum fähig gewesen wäre. Die 80 weiteren Serienminuten lang fieberte die „Tatort“-Gemeinde eigentlich hauptsächlich, wann das brandgefährliche „Doppelte-Lottchen“-Spiel des Kommissars auffliegen würde: ein gefundenes Fressen für Charakterdarsteller Tukur, das er bis ins Letzte auskostete. Zumal sich die Folge „Die Ferien des Monsieur Murot" vom Titel und vom Stil her auch noch zu einer Hommage an Jacques Tatis skurrilen Filmklassiker „Die Ferien des Monsieur Hulot" entwickelte. 8,27 Millionen Zuschauer blieben trotzdem eingeschaltet, nur ein paar Tausend weniger als bei der gerade vorangegangenen „Tagesschau“.
„Wieder mal ganz großes Kino und in der Reihe eine eigene Gewichtsklasse“, jubilierten Fans auf den vielen Portalen, bei denen sich die TV-Gemeinde nach jedem „Tatort“ melden kann. „Ein verantwortungsbewusster Beamter wäre nie so vorgegangen. Note fünf“, kritisierten andere. Und Til Schweiger, der sich als nuschelnder „Tatort"-Kommissar Nick Tschiller gewöhnlich durch seine Hamburger Folgen ballert, dürfte sich wieder einmal bestätigt gefühlt haben: Jede Folge der Augsburger Puppenkiste sei „glaubwürdiger, besser gespielt und vor allem spannender“ als die Auftritte des Kollegen Tukur, motzte Schweiger 2019 öffentlich. Und sprach damit auch denjenigen Zuschauern aus dem Herzen, die nach noch jeder experimentelleren Ermittlungsfolge in den sozialen Medien zu jammern pflegen: „Wir möchte einfach mal wieder einen ganz normalen 'Tatort' - einen einfachen Toten, einen Kommissar, 85 Minuten Suche nach dem Mörder, der dann in den letzten fünf Minuten gefasst wird. Und gut.“
Genau das war vor 50 Jahren das Patentrezept gewesen, mit dem die Serie an den Start gegangen, ja sozusagen aus der Not geboren worden war. Das ZDF hatte der damals in neun Landessender aufgeteilten ARD mit seiner Straßenfeger-Krimireihe „Der Kommissar“ mächtig Zuschauer abgenommen. Bei einem Kölner Strategiegespräch erhielt WDR-Redakteur Günther Witte deshalb den Auftrag, umgehend ein ARD-Serienpendant zu zimmern. Und Witte fand die Erfolgsformel: Pro Folge musste es gleich am Anfang ein Mordopfer und am Schluss einen überführten Mörder geben. Die Brutalität der Taten sollte überschaubar bleiben. Dazu musste der Zuschauer den Mordfall in seinem Lebensumfeld für möglich halten und den eigenen Alltag in regionalen Elementen wiedererkennen können. Jeder ARD-Sender konnte seine eigenen Kommissare ausschicken, die wiederum mit bekannten Schauspielern zu besetzen waren. Und schließlich forderte Witte noch: „Bitte keine komplizierten Arthouse-Geschichten. Keine komplizierten Rück- und Vorblenden.“ Und nach dem ersten Toten habe es nur noch darum zu gehen: „Wer war es und warum?“
Natürlich musste für all das 1970 ein eingängiger Vorspann mit sofort wiedererkennbarer Musik her. Der unbekannte Schauspieler Horst Lettermayer wurde für Aufnahmen auf der alten Rollbahn des Münchener Flughafens gebucht. Groß kamen seine blauen Augen ins Bild. Der heute 79-Jährige hatte sich in ein Fadenkreuz zu stellen und dann auf der von der Feuerwehr nass gespritzten Bahn davonzulaufen. Magere 400 DM erhielt er für die Testaufnahmen, die zu seinem Pech so gelungen waren, dass sie noch heute vor jedem „Tatort“-Sonntag in die Wohnzimmer flimmern. Komponist Klaus Doldinger wiederum bekam das heute eher antiquiert harmlos wirkende Intro als Rohschnitt gezeigt – und komponierte aus schweren Intervallen die unschlagbare Erkennungsmelodie dazu. „Ich wusste, vor allem die ersten Akkorde sind wichtig, um Spannung aufzubauen“, sagt der heute 84-Jährige in Jubiläumsinterviews. So machte der Vorspann den „Tatort“ zur wedererkennbaren Marke. Doldinger hatte zudem besser verhandelt als Lettermayer: Bis heute verdient er an jeder ARD-Ausstrahlung 50 Euro.
Am 29. November 1970 wurde jedenfalls der Schauspieler Walter Richter, ein aus heutiger Sicht behäbiger älterer Anzugträger, als Hamburger Kommissar Paul Trimmel im grenzüberschreitenden Krimi „Taxi nach Leipzig“ auf Verbrecherjagd geschickt. Einmal im Monat gab es ab nun sonntags nach der „Tagesschau“ einen Fall zu lösen. Die Einschaltquoten schossen in die Höhe. Es folgten ebenso biedere Typen wie der strenge Essener Kommissar Haferkamp, den Hansjörg Felmy kerzengerade im Trench gab. Kurioserweise erzielte eine Folge mit dem unscheinbaren Werner Schumacher als schwäbischer Kommissar Lutz von 1978 mit 26,57 Millionen Zuschauern und einem schier unvorstellbaren Marktanteil von 65 Prozent die bis heute größte Zuschauerrate. Was wohl dem damals ungemein populären Curd Jürgens als elegantem Mörder zu verdanken war.
Für eine Zeitenwende war die Serie 1981 reif. Götz George, ebenfalls ein Vollblutschauspieler, brachte mit seiner Version des verlotterten Duisburger Kommissars Schimanski plötzlich pralles Leben in die Wohnzimmer. „Der ist durch den Fernseher gesprungen, hat den Kasten gesprengt. Der war eine Revolution, kein Polizist“, erinnert sich der Schauspieler Dominic Raacke, der heute den Berliner Kommissar Ritter spielt, an seine Seherlebnisse. Damalige Polizeipräsidenten reagierten zwar entsetzt auf den „Scheiße“ fluchenden Schimanski. So jemand dürfe auf Wachen nicht einmal einen Fahrraddiebstahl ermitteln, entrüsteten sie sich. Was dem Erfolg der Duisburger „Tatorte“ jedoch keinen Abbruch tat. Sie erschlossen dem Format vielmehr neue junge Zuschauerkreise, die inzwischen zweimal im Monat den „Tatort“ anschalten konnten. Ab den 1990er Jahren wurde daraus mit wechselnden Teams sozusagen eine feste Verabredung am Sonntagabend in der ARD. Zum kirchlichen „Wort zum Sonntag“ am Samstagabend war tags darauf der „Mord zum Sonntag“ gekommen.
Das Format hatte sich also in diesen Jahren inhaltlich und stilistisch geöffnet. Alsbald wurden auch aktuelle politische Themen angepackt. Heiße Eisen wie die Ausbeutung südostasiatischer Frauen oder Kinderhandel fanden Einzug in die Serie: Zeichen setzte da 1995 die von Dominik Graf gedrehte Folge „Frau Bu lacht“. Graf sagt heute in Jubiläumsinterviews, dass das Format seit Beginn eine Art Gesellschaftsforum gewesen sei, was den Machern die Möglichkeit gegeben habe, die jeweils relevanten Themen der Zeit anzupacken. Das gilt auch heute noch. Aktuell sind 20 bewusst unterschiedliche „Tatort“-Teams in 16 Bundesländern unterwegs, darüber hinaus auch jeweils eins in der Schweiz und in Österreich. Seit Nicole Heesters 1978, übrigens damals gegen einigen Widerstand aus dem Publikum, mit der Mainzer Kommissarin Buchmüller die erste weibliche Ermittlerin spielte, haben sich heute allein 21 Frauen unter 46 Kommissaren an die Polizeifront hochgearbeitet. Die meisten Jahre auf dem Buckel hat auch eine Frau: Ulrike Folkerts alias Lena Odenthal aus Ludwigshafen ist seit 1989 dabei.
Fast ebenso lang gehen Ermittlungsteams wie die Münchener Kommissare Leitmayr und Batic (Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec) auf ebenso konventionelle Art auf Verbrecherjagd. In Weimar wird die bei jüngeren Zuschauern populäre Nora Tschirner dagegen auf eher hippe Fälle angesetzt. Parallel dazu dürfen die beiden mit bis zu 13 Millionen Zuschauern derzeitigen Quotenkönige Thiel und Börne (Axel Prahl und Jan Josef Liefers) durch die Verbrecherszene im gar nicht so bärbeißigen westfälischen Münster albern. Und der polarisierende Kommissar Murot darf bizarrerweise im Traum seinen ermordeten Doppelgänger in der Sauna wiedertreffen. Die Spannbreite der Erfolgsserie, für die sich Deutschland auch 50 Jahre nach dem Startschuss am Sonntagabend um 20.15 Uhr aufs Sofa zu setzen pflegt, ist ebenso groß wie die der Parallelserie „Polizeiruf 110“. Die war vor 49 Jahren als sozialistischer „Gegen-Tatort“ im DDR-Fernsehen gestartet worden und hatte nach der Wende ebenfalls den Sprung in den ARD-Sonntagabend geschafft.
Bleibt die nicht unwesentliche Frage, warum eigentlich in einem Land, das laut Statistik im letzten Jahr ganze 245 Mordopfer zu beklagen hatte, bei weitem nicht nur jeden Sonntagabend zwangsweise Blut fließen soll und Verbrecher gehetzt werden müssen. Der Mensch wolle Unterhaltung mit Nervenkitzel, um seine eigene Spannung abzubauen, lauten Erklärungen. Gut behütet auf der warmen Wohnzimmercouch genieße man den Kugelhagel, der einen selbst nicht erreichen kann. Und dann sei es gerade am Ende einer Woche immer eine Wohltat, in den „Tatorten“ fast jeden Kriminalfall aufgeklärt und kurz vor Schluss „die Guten“ siegen zu sehen, während das in der etwas harscheren Realität laut Kriminalstatistik nur in 54 Prozent der Fälle glückt. Der „Tatort“ sei so etwas wie der „Seelenspiegel der Deutschen“ und jeweils aktueller Seismograph der Gesellschaft, wird vermutet.
Zumal die regionalen Varianten gerade darauf bauen, die entsprechenden Milieus in der Provinz liebevoll zu zeichnen und das Lokale lebendig werden zu lassen. Die Kommissare Ballauf und Schenk (Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär) seit 1997 in Verschnaufpausen an ihrer pittoresken „Wurstbraterei“ direkt am Rhein Pommes essen zu sehen - da geht doch nicht nur dem kölschen Zuschauer das Herz auf. „Das letzte Lagerfeuer der Nation“ brennt also sonntags nach der Tagesschau. Zu dem verabredeten sich vor der Pandemie Menschen sogar in Kneipen zum Rudelgucken. Sie posten danach ihre Meinungen in den sozialen Medien und tauschen sich am Montag darauf noch einmal bei der Arbeit aus.
Wobei es natürlich auch seit 50 Jahren die kategorischen Kostverächter gibt. Die lehnen die Serie, die wochentags abends auch noch in Wiederholungen durch die Regionalprogramme tingelt, als „eingesessen wie ein altes Sofa“ ab und wollen die geheime Freude an Gewaltserien partout nicht teilen. „Tatort“-Gegner sprechen von trauriger Fernsehkost, die sie sich bei Gott nicht antun würden. Der Theaterschauspieler und Autor Joachim Meyerhoff etwa outete sich vor Jahren als „echter Tatort-Hasser“. Wenn er wunderbare Kollegen wie Axel Milberg, Martin Wuttke oder Eva Mattes in dieser Konfektionsware sehe, „dann halte ich es nicht aus“, klagte der heute 53-Jährige öffentlich. Was für eine unerhörte Unterforderung sei das. „Die totale Verbrüderung mit dem Zuschauer. Stets geheimnisvoll tun und dabei total durchschaubar sein.“ Und dann, das finde er fast noch verwerflicher, gebe es dieses Sich-Brüsten mit pseudobrisanten Themen, regte sich Meyerhoff.
"Mir ist die ganze Krimi-Schwemme auch zu viel. Es gibt ja außer Krimis praktisch nichts anders mehr im Fernsehen", klagt etwa auch Schauspielkollege Christian Wolff, der mit seichteren Rollen als Meyerhoff Erfolge feiert („Forsthaus Falkenau"). 50 Jahre nach Kommissar Trimmels erstem Fall dürften sich die Macher des Erfolgsformats aber auch aus anderen Gründen warm anziehen müssen. Denn in Zeiten von Netflix und Video on demand könnten auch ein halbes Jahrhundert deutsche Fernsehgeschichte irgendwann einmal zu Ende gehen.
Der Artikel erschien am 28. November 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal.
"Von guten Mächten wunderbar geborgen"
Dietrich Bonhoeffers letztes Gedicht von 1944 gibt vielen Menschen auch heute noch Halt: an Wendepunkten des Lebens, in Krisen - aber auch im Novemberblues
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Wer kennt sie nicht, die letzte Strophe des berühmtesten Dietrich-Bonhoeffer-Gedichts, die mit den Versen beginnt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag“? Vom Sinn, aber auch vom Klang und vom Rhythmus her empfinden wir sie als zutiefst tröstlich. Wir sagen oder singen sie, wenn wir unsere Liebsten begraben, aber auch in glücklichen Momenten bei Taufen, sogar bei Hochzeiten. Auf jeden Fall passen diese Zeilen immer dann, wenn wir Kraft und Zuversicht brauchen und wenn wir unsere eigene Begrenztheit spüren.
Die Verse des evangelischen Pastors, der sie am 19. Dezember 1944 schrieb, geben uns auch heute noch Worte für das, was wir im Innersten wünschen: einen Hoffnungsgaranten an einer Gabelung unseres Lebenswegs. Einen friedlichen Hafen auch in tiefer Unsicherheit. Einen Halt selbst im Novemberblues, der uns packt, wenn die Tage kürzer und die Nächte lang, kalt und dunkel sind. „Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag“, beendet Bonhoeffer kurz vor Weihnachten 1944 das Gedicht.
Der Zweite Weltkrieg tobt noch immer. Städte versinken im Bombenhagel. Die Welt brennt lichterloh. Bonhoeffer spricht in dem Gedicht durchaus vom „schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand“, den er und seine Zeitgenossen trinken müssen. Er verschweigt nicht den Wahnwitz der Realität. Er schreibt von allseits gequälten Herzen und dass den Menschen „böser Tage schwere Last“ drückt. Die Fratze des Nationalsozialismus hat sich 1944 längst entblößt. Seine ewige Hetze gegen Minderheiten und Andersdenkende hat aus normalen Bürgern Verleumder, Verräter und Schlächter ihrer Schwestern und Brüder gemacht. Millionen Leben sind schon aus Rassenhass erbarmungslos ausgelöscht worden.
Und da ist Einer, der sieht all das glasklar. Der verdrängt die Extremsituation nicht und vertraut sich trotzdem ohne Wenn und Aber, ja „getrost“ den vom ihm beschworenen „guten Mächten“ an. Die es seiner Überzeugung nach unbedingt gibt. Dieser Pfarrer theologisiert hier nicht vordergründig, sondern gibt seinem Credo durch die lyrische Form neuen Klang. Was für ein abenteuerlicher Mut in einer Endzeitlage, in der die Welt um ihn herum zu versinken droht.
Zumal der, der sich da behütet und geborgen fühlt, an diesem 19. Dezember 1944 nicht in der warmen Stube, sondern im Gefängnis sitzt.
Dietrich Bonhoeffer ist todgeweiht. 1936 hat der Theologe schon die Lehrerlaubnis für Hochschulen entzogen bekommen. 1940 erhält er Rede- und Schreibverbot. Was für einen Mann der frohen Botschaft dem Berufsverbot gleichkommt. Seine Kirche, die sogenannten Deutschen Christen, schützt ihn nicht. Bonhoeffer hat sich den oppositionellen Kollegen der Bekennenden Kirche angeschlossen. Er steht dem politischen Widerstand nah. Zwischen diesem und westlichen Regierungen hat er als Vertrauensmann über sein ökumenisches Netzwerk Kontakte geknüpft. Und obwohl er hochgradig gefährdet ist, kehrt er 1939 aus London und den USA wieder nach Hitler-Deutschland zurück. Einer der wirkungsmächtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts setzt sein Leben bewusst aufs Spiel.
Am 5. April 1943 schnappt die Falle zu: Bonhoeffer wird verhaftet. Da hat er mit Maria von Wedemeyer gerade die Liebe seines Lebens getroffen und sich verlobt. Am 8. Oktober 1944 ist er ins Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in die Berliner Prinz-Albrecht-Straße verlegt worden, also an einen in jeglicher Hinsicht furchtbaren Ort. In den oberen Etagen steuert das Nazi-Regime seine Verbrechen an der Menschheit. Und im Keller setzt sich ein politischer Gefangener, der vier Monate später gehängt werden sollte, mit den letzten existentiellen Fragen auseinander. Dabei wird das Gedicht von den „guten Mächten“ sein letztes sein, das noch an die Außenwelt gelangt. Ob der Häftling das ahnt?
Er hat in der Gefangenschaft in Briefen eine Art Vermächtnis an Familie und Freunde geschickt. Darin enthalten sind plötzlich, er ist selbst erstaunt, von Juni bis Dezember 1944 verfasste zehn Gedichte. Lyrik in Rohfassung, denn um die Verse wirklich ausarbeiten zu können, fehlt ihm im Kerker die Möglichkeit. Das will er später noch tun. „Ich bin ja kein Dichter“, schreibt er. Im Erstling „Vergangenheit“ reimt der so besonnene Theologe plötzlich federleicht über die Liebe, deren Erfüllung ihm „ein rauer Windstoß“ der Barbarei gerade zerstört. Im Gedicht „Nächtliche Stimmen“ blättert er einsam in seiner Zelle die zerstörerische Macht des Nationalsozialismus auf: „Unser Auge musste Frevel erblicken, um uns in tiefe Schuld zu verstricken, dann verschlossen sie uns den Mund, wir wurden zum stummen Hund.“
Im Gedicht „Wer bin ich" weiß sich Bonhoeffer, der in der Haft gefoltert wird, auch jetzt von Gott getragen. Das Gedicht „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ formuliert seine Vision christlicher Freiheit in der Barbarei, sogar in der Gefangenschaft. Wie er da auf seiner Pritsche auf die graue Wand der Zelle starrt, legt er sich lyrisch Rechenschaft über das ab, was vor ihm liegt: die Hinrichtung, die ihm aber die „ewige Freiheit“ nicht nehmen soll. Und er besinnt sich kurz vor Jahresende 1944 noch einmal auf die „guten Mächte“, die ihn schützen.
„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, die wir brauchen“, hat Bonhoeffer über das Handeln in Grenzsituationen geschrieben. Seine Verlobte hat die letzten Briefe an sie mit dem berühmten Gedicht Ende 1944 noch aus dem Gefängnis holen können. Er wolle alle, die sich um ihn sorgen, in einer Sache gewiss machen: Er selbst fühle sich auch im Kerker ganz und gar geborgen, formuliert er da. „Mein liebste Maria, ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick alleine und verlassen gefühlt“, steht im Brief.
Bonhoeffer hat in seinem nur 39 Jahre langen Leben Sätze gesagt und geschrieben wie: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ oder „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“. Oder im Sinne des Widerstands gegen die Nazis, dass der Mensch zum Äußersten bereit sein sollte, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. Bonhoeffer wird nicht ohne Grund als Ikone des Widerstands in Diktaturen gehandelt. In seinen zehn im Gefängnis verfassten Gedichten sublimiert er seine Aussagen noch einmal auf lyrische Weise. Er erdet sie, macht sie für jedermann verständlich und zeitlos.
Wie der Theologe Jürgen Henky schrieb, findet Bonhoeffer inmitten der tödlichen Bedrohung den unaufwändigen Ausdruck für eine bleibende Hoffnung, die seither zahllose Leser anrührt. Die letzte Strophe sei ja ungeheuer schlicht und in der Sprache überhaupt nicht aufregend. Das seien tausendmal benutzte und eingängige Worte und Reime, wie sie jeder kenne. Mag und Tag, geborgen und morgen. Aber es gelingt Bonhoeffer, in diesen einfachen Worten all das, was ihm wichtig ist, so zusammenzufassen, dass sie auch zahllose kirchenferne Menschen heute in Zuversicht mitsprechen oder, des lyrischen Tons wegen, mitsingen wollen.
Das letzte Gedicht hat Weggefährte Eberhard Bethge 1951 erstmals veröffentlicht. Bis heute haben mehr als 70 Komponisten den Text vertont. Gängig ist besonders die Melodie von Siegfried Fietz aus dem Jahr 1970, über deren Sakro-Pop-Charakter Puristen jedoch die Nase rümpfen. Trotzdem hat sie ebenso Einzug ins Evangelische Gesangbuch gefunden wie die „seriösere“ Melodie von Otto Abel von 1959. Die Verse und dazu die Melodie von Fietz haben aber auch im gar nicht sakralen Alltag vieler Menschen Einzug gehalten. Und gerade heute an dunklen Novembertagen, an denen allerorten aus analogen und digitalen Lautsprechern Verschwörungs- und Bürgerkriegsnarrative gebrüllt werden, möchte man sie sich in Erinnerung rufen. Einer, der kurz vor seiner Deportation ins Todeslager stand, schrieb in größter Not: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“
Im Handel erhältlich: Gotthard Fermor, Neuausgabe: „Dietrich Bonhoeffer. Die Gedichte“, mit Musik von Josef Marschall, Fotos und CD, München 2020, 18 Euro.
Der Artikel erschien am 7. November 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal.
15. 10.1940: Premiere von Chaplins "Der große Diktator"
Der Tyrann als Witzfigur
Vor 80 Jahren – es tobte der Zweite Weltkrieg - wurde Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ uraufgeführt. Die legendäre Hitler-Parodie war anfangs heiß umstritten
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Auf einer riesigen Bühne redet sich ein finsterer Mann in Uniform vor akkurat aufgereihten Menschenmassen minutenlang in Rage. Von dem seltsamen Kauderwelsch, das er immer entfesselter in die sich regelrecht verbiegenden Mikrophone bellt, sind nur Wortfetzen wie „Leberwurst“, „Sauerkraut“ oder „Wiener Schnitzel“ zu verstehen. Eine einzige Handbewegung reicht, und die Zehntausende auf dem Platz unter den Doppelkreuzfahnen heben zu frenetischem Beifall an. Derweil schüttet sich der theatralisch grimassierende Redner zur Abkühlung ein Glas Wasser in die Hose. Woraufhin er den Rest seines Auftritts in Verdacht gerät, seine Blase nicht unter Kontrolle zu haben. Einerseits scheint die bombastische Kulisse für das wahnwitzige Spektakel aus einem Leni-Riefenstahl-Propagandafilm der Nazis geklaut. Andererseits wird diese Stimmung unverschämt satirisch gebrochen. Hier schreit „Adenoid Hynkel“, dessen Vorname sich aus „Adolf“ und „paranoid“ zusammensetzt, seinen gesammelten Hass in die Menge. Und gleichzeitig wird er unmissverständlich lächerlich gemacht.
Es ist der 15. Oktober 1940, als mit dieser Schüsselszene Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ in die US-Kinos kommt. Der britische Starregisseur selbst spielt Adolf Hitler, der in der Realität seit einem Jahr dabei ist, mit seiner Terrorherrschaft die gesamte Welt in Flammen zu setzen. Chaplin gibt den enthemmten Einpeitscher mit der nassen Hose als brillante Parodie: Als Hynkel von der Bühne schreitet, versetzt ihm seine Marionette, der fette Feldmarschall Herring (alias Hermann Göring), tapsig per Hinterteil einen Schubs, so dass der Führer die Treppe hinunterkracht. Selbst der perfide Propagandaminister Garbitsch, also deutsch „Müll“ (alias Joseph Goebbels) kann sich ein zynisches Zucken im Gesicht nicht verbeißen. Das Premierenpublikum in New York soll sich vor 80 Jahren ausgeschüttet haben vor Lachen, berichteten Zeitgenossen später.
Da hatte doch wirklich erstmals in Hollywood Einer den Schneid, den Reichskanzler, der im September 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweite Weltkrieg entfacht hatte, durch den Kakao zu ziehen. Und den Pomp, die Theatralik, die perfide Propaganda und die mörderische Skrupellosigkeit des Faschismus gleich dazu. Wie schrie Diktator Hynkel in die einen Film lang für ihn aufgestellten Mikrophone: „Demokratie Schtonk! Liberty Schtonk! Free Sprecken Schtonk!“ Wobei Chaplins Kunstwort „Schtonk“ mit „… wird abgeschafft“ zu übersetzen ist. 1992 griff der deutsche Regisseur Helmut Dietl für seinen satirischen Film über die Hitler-Tagebuch-Affäre darauf zurück. Ein paar Szenen in Chaplins Film weiter wird der perfide Verführer Hynkel in seiner pompösen Reichskanzlei plötzlich feige die Fenstervorhänge hochklettern und ein erbärmliches „Ich bekomme Angst vor mir selbst“ ausstoßen. Chaplin zog wahrlich alle Register seiner satirischen Kunst. Dieser Adolf Hitler ist ein erbärmlicher Versager.
Schon während der Planung des Films blies Chaplin jedoch der Wind scharf um die Ohren. Konservative Kreise in den USA warnten ihn noch bis zur Premiere, gegen den auch von ihnen bewunderten Hitler vom Leder zu ziehen. Offen begehrten amerikanische Antisemiten gegen den Regisseur auf. Die Filmstudios weigerten sich, ein solches Projekt zu unterstützten. Sie fürchteten, ihren verbliebenen Markt in Deutschland zu gefährden. „Niemand in Hollywood wollte etwas mit dem Krieg zu tun haben", sagt Chaplin-Forscher Paul Duncan. Ja selbst jüdische Organisationen rieten vom Projekt ab, weil es möglicherweise die Juden in Nazis-Deutschland noch mehr gefährden könnte. Auch Politiker malten ernsthafte diplomatische Komplikationen an die Wand. Zeitweise dachte Chaplin an einen Abbruch des Projekts, bis ihn ein Abgesandter des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt beschwor, den Film unbedingt zu drehen. Ab da ging der Regisseur in die Vollen. Er nahm die gesamte Finanzierung und Verantwortung auf sich. 559 anstrengende Drehtage sollten vor dem Perfektionisten und seinem Team liegen.
Die New York Times spricht davon, dass der damals einflussreichste Komiker des Kinos mit dem „Großen Diktator“ den „vielleicht wichtigsten Film, der je hervorgebracht wurde“, nämlich eine auf die apokalyptische Weltlage reagierende politische Komödie und Tragödie, riskiert habe. Sicher war der 1889 in England geborene Chaplin seit Jahrzehnten mit seinen genialen Stummfilmklassikern wie „Der Tramp“ (1915), „Lichter der Großstadt“ (1931) oder „Moderne Zeiten“ (1936) bestens im Geschäft. 1938, als er das „Diktator“-Projekt zu planen begann, stand der in Hollywood selbständig produzierende Star jedoch am Scheideweg: Er musste endlich auch seinen ersten Tonfilm wagen. Und er wollte nun auch politisch Farbe bekennen, nachdem er in seinem letzten Film „Moderne Zeiten“ in seiner Paraderolle als „Tramp“ die turbokapitalistisch menschenverachtenden Methoden der US-Konzerne angegriffen hatte.
Chaplin persönlich hatte die Gewaltbereitschaft der Nazis schon 1931 bei seinem an sich viel bejubelten Besuch in Berlin kennengelernt. Vor seinem Hotel hatten sich auch drohende SA-Männer zusammengerottet, die gegen den vom Parteiblatt „Völkischer Beobachter“ so genannten „jüdischen Filmaugust“ protestierten. Mit der Machtübernahme der Nazis waren sofort sämtlich Chaplin-Filme in Deutschland verboten. Im bald darauf erschienenen NS-Propagandabuch "Juden sehen Dich an“ wurde der Weltstar als „widerwärtiger kleine Zappeljude" bespuckt. Obwohl Chaplin keine jüdischen Wurzeln hatte, weigerte er sich, die Behauptung zu korrigieren, um keinen Antisemiten in die Hände zu spielen.
Und dann hatte die Presse seit Jahren immer wieder eine äußerliche Ähnlichkeit seiner Filmfigur des Landstreichers mit dem leibhaftigen Adolf Hitler behauptet. Wenn diese auch vor allem daher rührte, dass der „Führer“ irgendwann vom Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer zum markanten Oberlippenbart des seit 1914 vom Publikum geliebten Chaplin-„Tramps“ gewechselt war. Darauf angesprochen, dass seine Filmfigur Hitler kopiere, antwortete Chaplin jedenfalls stets, das sei ja wohl umgekehrt. „Da Hitler denselben Schnäuzer wie der Tramp hatte, konnte ich beide Charaktere spielen“, schrieb er später in seiner Biografie. 1939 schilderte das britische Magazin „The Spectator“ anlässlich des 50. Geburtstags beider weitere Parallelen: dass Chaplin nur vier Tage vor Hitler zur Welt kam und beide in ärmlichen Verhältnissen aufwuchsen. „Sie spiegeln dieselbe Wirklichkeit wider – die Not des kleinen Mannes in der modernen Gesellschaft. Beide sind Zerrspiegel, der eine zum Guten, der andere zum unsagbar Bösen.“
Da hatte Chaplin längst hinter strengstens verschlossenen Türen mit dem Drehen seines „Diktator“-Films begonnen. Seine damalige Ehefrau Paulette Goddard, die selbst jüdischer Herkunft war, hatte er in der Rolle der mutigen Kämpferin für die Freiheit der Ghetto-Bewohner besetzt. Im Laufe des Films wird ein ebenfalls von Chaplin gespielter, Hynkel zum Verwechseln ähnlicher jüdischer Friseur plötzlich die Rolle des brutalen Führers übernehmen müssen – ein das reale Pressegeraune weiterführender genialer Kunstgriff. Er sollte dem Regisseur die Möglichkeit geben, einen durchgeknallten Gewaltherrscher mit seinem fast kindlich unschuldigen, zögerlichen Opfer zwei Filmstunden lang zu kontern. Als traumageschädigter Ex-Soldat des Ersten Weltkriegs wird dieser kleine Friseur die Menschenverachtung des Gewaltherrschers bis fast zum Schluss des Films nicht verstehen können, so gutmütig ist er.
Akribisch hatte sich Chaplin auf diesen für ihn so risikoreichen Film vorbereitet. Sein Vater habe in der Zeit mit Ausdauer jede Wochenschau, die damalige Nachrichtensendung, gesehen, berichtete später Chaplins Sohn Sydney. Dabei habe der Vater besonders die Mimik, die Gestik und die Ausdrucksweise des realen Diktators studiert, der sein bösartiges Charisma erst richtig in den im Radio oder Kino übertragenen Reden ausspielen konnte. Im Film dreht und spreizt sich Chaplin in seiner Reichskanzlei immer wieder aufreizend vor Spiegeln, um das Ergebnis mimischer und stimmlicher Extremübungen zu perfektionieren. Mit dem germanophilen Kauderwelsch seiner Hitler-Parodie traf der britische Allroundkünstler ebenfalls den Nagel auf den Kopf. Der Sinn der gebrüllten Sätze war einfach nebensächlich. Nur ein paar Schlüsselworte und der Effekt waren wichtig. Mit einem johlenden Publikum im Reisebus hatte Chaplin zuvor im Yosemite Nationalpark das bei ihm mit „Schnitzel“ und „Leberwurst“ versehene Fantasieidiom selbst entwickelt. So konnte er den größenwahnsinnigen Selbstdarsteller zur Witzfigur machen.
Eine der wichtigsten Szenen der Filmgeschichte, der Tanz des großen (oder eher mickrigen) Diktators mit der Weltkugel, geht ebenfalls auf Chaplins Kreativität zurück. Es gibt private Filmaufnahmen, die den Star schon 1928 auf einer Party der Schauspielkollegin Mary Pickford zeigen, wie er im Rüschenkleid und mit dem Helm eines deutschen Soldaten auf dem Kopf um einen Globus hüpft. Als er in der Wochenschau Aufnahmen der großen Weltkugel im Büro Adolf Hitlers sah, baute Chaplin die Idee im Film von 1940 konsequent ein. Untermalt von der Ouvertüre zu Richard Wagners „Lohengrin“, schwebt der Star mit dem riesigen Luftballon Erde sozusagen schwerelos durch seine Reichskanzlei, ein Effekt, den Chaplin durch filmisch rückwärts aufgenommene Bewegungen erzielte. In seinem Größenwahn kickt der Diktator des Films die Erdkugel respektlos mit dem Hintern in die Luft. Bis das fragile Etwas zerplatzt und den Weltenherrscher der Marke Möchtegern mit erschrocken-ratloser Miene zurücklässt – eine groteske Szene.
Zur groß angeworbenen US-Premiere des Films am 15. Oktober 1940 hatte der Regisseur, der scharfen Vorabkritik wegen, extra Trupps von Hafenarbeitern dazugeladen, um sich vor eventuell angereisten Schlägern zu schützen. Die New Yorker Zeitung „Daily News“ hatte ihm sogar kommunistische Umtriebe vorgeworfen. Das Publikum reagierte jedoch mit Ovationen. „Die Leute lachten zuerst und weinten danach“, äußerten Zeitgenossen. Der Film wurde ein Kassenschlager. Auch in Großbritannien feierte er Triumphe als künstlerisches Bollwerk gegen die Nazis. Nach Deutschland kam er erst 1958: Die Verleiher hatten ihm in den ersten Nachkriegsjahren keinen Erfolg zugetraut. Da gab es doch noch zu viele in Deutschland zuvor verpasste US-Unterhaltungsfilme zu vermarkten. Doch besonders das großstädtische deutsche Publikum sollte diese Einschätzung bald Lügen strafen. „Der große Diktator“ avancierte zum Kultfilm.
Wenngleich Chaplin selbst nach 1945 zu bedenken gab: „Hätte ich damals von den Grauen in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte `Der große Diktator` nicht machen können, ich hätte keine Witze über den mörderischen Wahnsinn der Nazis machen können.“ Adolf Hitler selbst soll übrigens eine von seinem Stab aus Portugal bestellte Kopie des Films zu Kriegszeiten zweimal in die Reichskanzlei geordert haben. Wie der reale Diktator darauf reagiert hat, ist leider nicht bekannt.
In einer letzten Schlüsselszene tritt der jüdische Friseur, die Figur des Tramps so vieler Chaplin-Filme zuvor, noch einmal in Hynkel-Uniform auf. Erstmals spricht der Tramp. Und zwar, nachdem er mit dem Diktator verwechselt worden war, bei einer im Radio übertragenen großen Rede. Hier spricht aber nicht der kleine Friseur, sondern Charles Chaplin selbst zu seinen Millionen Zuschauern. Am 15. Oktober 1940, in Europa tobt der Zweite Weltkrieg, da sendet er einen leidenschaftlichen Appell an die ganze Welt aus, für Frieden, Menschlichkeit und Demokratie zu kämpfen. „Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen: Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt“, ruft Chaplin ins Mikrophon. Er tritt ein für eine anständige Welt, die jedermann gleiche Chancen gibt. „Lasst uns kämpfen für eine Welt der Sauberkeit. In der die Vernunft siegt, in der uns Fortschritt und Wissenschaft allen zum Segen reichen. Kameraden, im Namen der Demokratie: Dafür lasst uns streiten!“ Eine Botschaft, die heute aktueller kaum sein könnte.
Der Artikel erschien am 110. Oktober 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal.
New York 9/11: Nachdenken über die, die fehlen
NEW YORK Am Ground Zero, der riesengroßen Explosionsstelle in New York, haben bis zum schwarzen 11. September 2001 die 417 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Centers gestanden. Eine Reise zu dem Ort, der die Welt seither veränderte.
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Eine gespenstische Stimmung. Mitten in Manhattan, unter metallisch glänzenden Wolkenkratzern, ist nichts als das Rauschen von Wasser zu hören. Pausenlos. Nur ab und zu dringt leise das Sirenengeheul einer Ambulanz von den nahen Avenues herüber. Aus zwei von Kupferumrandungen gefassten riesigen Becken ergießen sich auf diesem Mahnmal-Terrain jeweils neun Meter hohe Wasserwände in die Tiefe zweier Bassins und von dort aus in dunkle Schlünde. Menschen stehen an den Beckenmauern und blicken unverwandt in die gähnende Tiefe. Manche streichen leicht über die ins Kupfer eingefrästen Tausende von Namen.
Genau hier am Ground Zero, der riesengroßen Explosionsstelle in New York, haben bis zum schwarzen 11. September 2001 die 417 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Centers gestanden. Bis sich zwei von Terroristen gekaperte Flugzeuge im Herzen des Finanzdistrikts mit gut 940 Kilometern die Stunde in die Symbole der US-Wirtschaftsmacht bohrten. Und die Hitze der Explosion selbst die Stahlkonstruktionen der Hochhäuser zerstörte. Die Wucht der aufprallenden Flieger, die aufsteigenden Rauchsäulen, die schließlich in sich zusammensinkenden Twin Towers - wem hat sich dieses Horrorszenario nicht ins Gedächtnis gebrannt?
Dieses 9/11-Memorial, das ebenerdige Mahnmal für die rund 3000 Opfer der Terroranschläge, hat seit seiner Eröffnung im Jahr 2011 rund vier Millionen Besucher angelockt. "Reflecting absence", also Nachdenken über die, die fehlen, heißt das von Daniel Libeskind entworfene riesige Ensemble am Ort, an dem über lange Zeit noch Schuttberge weggeräumt und Leichenreste sowohl aus den Türmen als auch aus den Fliegern geborgen werden mussten. Im Gedenkpavillon im Eingangsbereich erinnern Informationsschriften, Videos und einzelne Ausstellungsstücke an die Katastrophe.
Seit Mai 2014 stellt auf dem Gelände in einem riesigen Glaskubus zusätzlich das 9/11-Museum sämtliche Fundstücke der Katastrophe auf sieben unterirdischen Etagen aus: vom einzelnen verkohlten Männerschuh bis zur zerfetzten Kleinkindpuppe. Aber eigentlich braucht man in den Kubus gar nicht erst hinunterzuklettern. Schaudernd nachfühlen lässt es sich am besten draußen im gleißenden Sonnenlicht unter den neu hochgezogenen Wolkenkratzern vis-à-vis, wie die gigantischen Träger der Twin Towers ob der enormen Explosionen ihre Türme nicht mehr halten konnten.
Touristen aus aller Herren Länder drängen aufs Gelände, obwohl die komplizierten Sicherheitsvorkehrungen jedem internationalen Flughafen zur Ehre gereichen würden. Der Eintritt ist für den Außenbereich zwar kostenlos. Doch ohne eine Spende von zumindest fünf Dollar kommt wohl kaum jemand am gestrengen Personal vorbei. Sogar das dürre Abraham-Lincoln-Double, das freundlich darauf beharrt, an diesem sonnigen Nachmittag in seiner Alltagskleidung erschienen zu sein, muss bei der Kontrolle seinen viktorianischen Zylinder abnehmen und sich abtasten lassen.
Die meisten Besucher umrunden hauptsächlich die riesigen Becken und starren wortlos in die schwarzen Schlünde, in die die Wassermassen gurgelnd verschwinden. Das Lincoln-Double steht verlassen vor der Kulisse. Ihn will an diesem ernsten Ort wirklich keiner fotografieren. Die hageren Gesichtszüge verziehen sich. Der Zylinder steckt inzwischen unterm Arm. Bei Sonnenstrahlen spiegeln sich auf den Bassinrändern die Türme des nahen neuen World Trade Centers. Die Weltmacht hat die Terroranschläge 2015 mit noch höheren Wolkenkratzern beantwortet.
Unten auf den Kupferflanken der Bassins sind die Namen der 2983 Menschen eingefräst, die ihr Leben hier sowie an den beiden anderen Anschlagsorten im Washingtoner Pentagon und auf einem Feld bei Shanksville in Pennsylvania ließen. Kleine US-Fähnchen sind auf Namenszügen postiert oder weiße Rosen und Nelken. An einem anderen Mahnmal in einer Nebenstraße, an der Station der New Yorker Feuerwehr, müssen immer wieder neue Opfernamen eingeritzt werden: Lange nach dem 11. September 2001 sterben immer noch Helfer an den Folgen des damals aufgewirbelten mörderischen Staubs, der pulverisierten Beton in ihre Lungen getrieben hatte.
Unter den Opfern des Südturms springen auch deutsche Namen ins Auge. Heinrich Kimmig, Klaus Bothe und Wolfgang Peter Menzel waren als Manager eines Baden-Württemberger Technologiekonzerns hilflose Passagiere des Flugs 175 gewesen, der den Südturm zum Einsturz bringen sollte - und mit ihm viele Hundert Menschen, darunter auch die Landsleute Sebastian Gorki und Klaus Sprockamp. Ob Kimmig, Bothe und Menzel, die drei deutschen Manager, noch bewusst sahen, wie ihre Boeing 767 in steiler Kurvenlage direkt in den gigantischen Turm hineinraste?
Kurz vor dem Start des Fluges hatte Personalchef Menzel noch seine Frau in Deutschland angerufen und ihr versprochen, dass dies seine letzte Dienstreise sein werde. Familienvater Bothe hatte seine kleine Tochter grüßen lassen. Lara feierte genau an diesem 11. September 2001 ihren dritten Geburtstag. Ahnungslos verfolgte die Familie dann im Fernsehen live, wie sich die Maschine des Vaters zum Terrorgeschoss verwandelte. Ein Jahr später konnte Lara dann wenigstens einen kleinen Knochen ihres Vaters in das bis dahin leere Grab legen lassen. US-Wissenschaftler hatten aus den sterblichen Überresten am Ground Zero das Knöchelchen identifizieren können.
Constanze Menzel, die andere 9/11-Witwe, hat bis heute nichts außer dem Staub vom Ort des Massakers in Händen halten können. Unfassbar sei der Tod, wenn ein Mensch gehe, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, sagt sie. Hier im Schatten der Trauerbäume auf dem 9/11-Memorial kann aber auch Wolfgang Peter Menzel gedacht werden. Sein Name ist im Schatten der neuen glitzernden Wolkenkratzer neben dem seiner Kollegen zu lesen. Und unentwegt rauschen die Wassermassen in die dunklen Löcher, wo einst die stolzen Twin Towers standen.
Der Artikel erschien am 11. September 2014 in: General-Anzeiger Bonn.
Walther von der Vogelweide: ein geniales Schandmaul
1170, also vor 850 Jahren, soll Walther von der Vogelweide geboren worden sein. Er war einer der größten deutschsprachigen Dichter - und eine Art Bob Dylan des Mittelalters
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Was für ein wunderschönes Liebesgedicht. Darin lässt sein Autor Walther von der Vogelweide eine Frau von den Spuren des Lagers berichten, das sie eben unter einer Linde in der Heide mit ihrem Liebhaber heimlich geteilt hat. Von ihrer Leidenschaft zeugen für den, der genau hinsieht, noch gebrochene Blumen und Gräser. An den Rosen kann man erahnen, wo ihr Kopf gelegen hat, als der Mann sie küsste, „wol tusentstunt / tanderadei, seht wie rot mir ist der munt,“ so die Frau. Und “schône sanc die nahtegal“. Unwichtig sind die Herkunft der Liebenden, die Umstände und was danach passiert. Ein paar Striche reichen und eine perfekte lyrische Form, und schon spürt der Leser dieses um 1200 entstandenen Gedichts oder besser gesagt Liedes das einzig Wichtige: wie glücklich diese Frau ist.
Einprägsam ist auch die klangliche Schönheit des Originals. Auch der des Mittelhochdeutschen Unkundige möge einmal laut und mit extra langen Vokalen für sich lesen: „Under der linden / an der heide, / dâ unser zweier bette was, / dâ mugt ir vinden / schône beide / gebrochen bluomen unde gras“. Und der tänzelnde Rhythmus und die betörende Lautmalerei dürften auch ihm nicht verschlossen bleiben. Selbst Deutschlands ehemaliger „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki urteilte in seiner seit 1974 herausgegebenen Frankfurter Anthologie herausragender deutscher Lyrik: „Es ist ein vollkommenes poetisches Gebilde: Kein Wort fehlt hier, und auf keines lässt sich verzichten.“
Beide, den Poeten und seine Liebste, zeichne aus, was weit über acht Jahrhunderte überdauert habe und sich jeder wissenschaftlichen Definition entziehe: Charme und Anmut, so Reich-Ranicki. Und hätten die meisten Kollegen um 1200 als sogenannte Minnesänger nur den „beseelten Eros“ für sie unerreichbarer Frauen, nämlich der jeweiligen Herrinnen, beschworen, so habe dieser Walther gar nicht erst daran gedacht, das Sexuelle auszusparen. „Erst in einer viel späteren Epoche hatte Deutschland wieder einen Dichter, der Verse von vergleichbarer Schönheit geschrieben hat: Goethe“, meinte Reich-Ranicki.
Den Vergleich mit dem Dichterfürsten der Weimarer Klassik des 18. Jahrhunderts musste Walther, der mittelalterliche Lyriker, auch in der gestrengen Literaturwissenschaft nie fürchten. Seine einst gesungenen Gedichte bilden mit den Versromanen „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach und „Tristan“ von Gottfried von Straßburg sowie dem höfischen Heldenepos „Nibelungenlied“ unbestritten die „Gipfelleistungen der Staufischen Klassik“, eben der deutschsprachigen Hochliteratur des Mittelalters. Das lernen Germanistikstudenten seit Jahrzehnten im Hörsaal.
Walthers Oeuvre sei einzigartig vielgestaltig, seine Verse gehörten gar zum kulturellen Gedächtnis der Deutschen, führt der Aachener Germanist Thomas Bein aus. Der Mediävist, der einst an der Universität Bonn studierte, hat 1999 mit seiner Forschungsgruppe die maßgebliche Edition der Werke Walthers neu herausgeben. Sie war 1827 von dem berühmten Vorgänger Karl Lachmann begründet und von Beins Bonner Lehrvater Christoph Cormeau fortgeführt worden. Walther sei von seinem Kollegen Gottfried von Straßburg („Tristan“) schon einmal wegen des Linden-Gedichts als „Nachtigall“, also als Star, verehrt worden, wirbt der Buchhandel für die umfangreiche Neuedition der 97 eindeutig zuzuordnenden Minne-, also Liebeslieder und politischen Sangsprüche.
Von der „Nachtigall“ ist damit eines der umfangreichsten Werke des Mittelalters überliefert. Wobei es wie allgemein bei mittelhochdeutscher Literatur keine Urausgabe gibt. Vor allem vier große Handschriften, die lange nach Walthers Tod geschrieben wurden, überliefern zum Teil stark variierende Versionen, die die neue verbindliche Walther-Edition nun erstmals gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Wer daraus ein „Original“ konstruieren wolle, der handele spekulativ, sagen die Herausgeber. Auch die Melodien zu mittelhochdeutschen Werken sind verloren, außer bei einigen Liedern, die baugleich zu französischen Chansons dieser Zeit sind. Soweit zur schwierigen Überlieferungslage.
Doch wer war dieser Walther von der Vogelweide, der, davon geht die Germanistik aus, für seine Zeit erstaunliche 60 Jahre alt wurde, also wohl 1230 starb? Schon sein Geburtsjahr ist nicht sicher. Die Forschung meint: Er habe „um 1170“ das Licht der Welt erblickt, weil nach 1190 die ersten professionellen Verse von ihm überliefert sind. Walthers Beiname hilft auch nicht weiter. Bezeichnete „von der Vogelweide“ die Herkunft, oder war das sein selbst gewählter Künstlername? Der Geburtsort lässt sich ebenso wenig lokalisieren. Mit Blick auf seine Reimbildung stammt Walther aus dem Sprachraum des heutigen Bayern, Österreich oder Südtirol. Das kann man immerhin sagen.
Aber eigentlich wird das Leben der Sangesstars nur durch ein einziges historisches Zeugnis wirklich ausgewiesen: eine Reiserechnung des damaligen Bischofs von Passau vom 11. November 1203. In der steht, dass dieser dem „Waltherus cantor de Vogelwiede“ fünf Geldstücke für einen Pelzmantel gegeben habe. Der Sänger Walther muss sich also mit 33 Jahren den Ruf eines bekannten und geachteten Dichters erarbeitet haben. Sicher ist wohl auch, dass er in Würzburg begraben wurde. Das verzeichnete später das Hausbuch des Gelehrten Michael de Leone.
Wenn auch so manche andere Stadt Walther für sich zu reklamieren versucht. So etwa Bozen mit einem monumentalen Denkmal, das aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert stammt, der Zeit, als man längst dabei war, Walther für dumpfen, chauvinistischen Nationalismus zu missbrauchen. Auf einen solchen herrschaftlichen Sockel wie in Bozen haben die Zeitgenossen Walther jedenfalls nie gestellt.
Künstlerisch erfolgreich zu sein, seine Rolle sozusagen als Bob Dylan des Mittelalters zu erfüllen, das war nämlich auch damals Knochenarbeit. Und wie die in Walthers Leben genau aussah, das hat sich die Germanistik dann komplett aus seinen Liedern und Sangsprüchen, den jeweils dort genannten historischen Ereignissen sowie Rückschlüssen auf besser belegte Zeitgenossen selbst erschlossen, Zyniker sagen: zusammengereimt. Die Faktenlage war hier dank der Fülle des Materials aber vergleichsweise gut.
Walther muss also seine berufliche Laufbahn etwa 1190 am Hof des Babenberger Herzogs Friedrich I. bei Wien als reiner „Minnesänger“ mit Liebeslyrik begonnen haben. „In Osterrîche lernte ich singen unde sagen“ wird er das 1213 im Rückblick formulieren. Sein Lehrherr am Hof muss der damals populärste deutschsprachige Minnesänger gewesen sein: Reinmar von Hagenau. Er war der Meister der schmerzhaften Minne-, also Liebesklage, der seine Anerkennung aus dem kunstvoll zelebrierten Leiden an der Zuneigung zu unerreichbaren Damen des Hofes bezog: die damals gängige masochistische Form der Liebeslyrik.
Der kecke Walther muss sich als Schüler des Alten bestens gemacht haben: Bald erstrahlten seine Verse in ebenso vollendeter Form. Aber im Inhaltlichen taten sich Abgründe auf, wie man nicht zuletzt beim von Marcel Reich-Ranicki so gelobten Lied über die Liebe unter der Linde in der Heide sehen kann: Walther sollte den traditionellen Minnesang grundlegend erneuern, indem er ihn aus der Klage der einseitigen Liebe erlöste und die gegenseitige Zuneigung einführte. Über den Standesbegriff der verehrten Herrin setzte Walther in seinen Liedern das Wunschbild einer Frau, die zu wirklicher Liebe bereit war. Das war ein schier revolutionärer Schritt in der Dichtung seiner Zeit, den seine Zuhörer jedoch offensichtlich beklatschten und den das junge Talent alsbald in eine Liga mit den erfolgreichsten Minnesängern katapultierte.
Wenn da mit dem jungen Heißsporn nicht gleich auch die Pferde durchgegangen wären. Walther ist auf der bekannten von ihm überlieferten Miniatur aus der Heidelberger Liederhandschrift von 1330 als freundlich nachdenklicher Dichter abgebildet. Gemäß seines „Reichtons“ („Ich saz ûf eime steine“) sitzt er auf einem Stein, schlägt ein Bein über das andere, „darauf setzte ich den Ellebogen, / in meine Hand hatte ich das / Kinn und eine Wange geschmiegt.“ Der Schriftsteller auf dem Stein wirkt regelrecht zahm. Der reale Walther sollte jedoch bald als widerborstiger Polemiker bekannt werden, als geniales Schandmaul. Gegen den Lehrmeister Reinmar zog er vom Leder und verwickelte ihn in eine literarische Fehde, innerhalb derer er den Älteren offen parodierte.
In einem späteren Scheltlied („Lange swîgen des hat ich gedaht“) wird der frühe Dylan den Streitpunkt noch weiter ausführen: Er werde darüber nicht mehr schweigen, schreibt er: Wolle die Frau, der er durch seine Poesie erst Ruhm verschafft habe, ihn im Alter nicht mehr ansehen, „dann rächt mich, streichelt ihre alte Haut mit jungen Ruten“, ruft er junge Dichter auf. Das war starker Tobak für einen Sänger seiner Zeit. 1198 hieß es jedenfalls, den Wiener Hof schleunigst zu verlassen. Die Chance auf den ersehnten Posten eines Hofsängers war vertan.
So sollte sich der ewig klamme Sänger die nächsten 20 Jahre, von Armut gehetzt, von Hof zu Hof nur noch auf Lesereise befinden: oft laut und eigensinnig, taktlos und voll verletzender Schmähsucht – was das gebildete Publikum aber offenbar auf hohem Niveau unterhaltsam fand. Bis 1201 dichtete und sang der temperamentvolle Tausendsassa z.B. im Hause des Stauferkönigs Philipp und von 1212 bis 1213 am Hof des Welfen Otto IV. Pikanterweise war Walther damit nacheinander im Dunstkreis direkter politischer Konkurrenten gelandet. Auf der Suche nach festen Engagements durfte ein fahrender Sänger halt nicht zimperlich sein und musste manche Kröte schlucken.
In Abhängigkeit von wechselnden Brotgebern spezialisierte sich Walther nun auf handfest politische Spruchdichtung, vertrat eloquent die Sichtweise des jeweiligen Gönners und verunglimpfte dessen Feinde. Besonders der Papst in Rom kam dabei nicht gut weg, so im „Unmuts-„ oder „Ottenton“, wo der Dichter provokant fragte: „Sagt an, Herr Opferstock, / hat Euch der Papst hergesandt, / damit Ihr ihn reich macht / und uns Deutsche arm macht und auszehrt?“ Auch ehemalige Unterstützer, die sich schließlich als extrem geizig erwiesen, bekamen ihr Fett weg. Oder war der Dichter bei ihnen wegen seiner bei politischen Themen besonders spitzen Zunge in Ungnade gefallen?
Dieser "Bob Dylan" saß halt allzu gerne zwischen den Stühlen. Andererseits bewahrte Walther sich auch immer die Freiheit des fahrenden Sängers, existentielle Themen tiefgründig anzugehen: also etwa die Frage, „wie man zer welte solte leben“ im sogenannten Reichston („Ich saz ûf eime steine.“). Die „Nachtigall“ geht kompromisslos ans Eingemachte: Wo in aller Welt finde man Menschen, bei denen „Besitz und weltliche Ehre / und dazu noch Gottes Wohlwollen / zusammen in ein Herz kommen?“ Walthers Resümé: „Die Untreue ist auf der Lauer, / Gewalt herrscht auf der Straße, / Friede und Recht sind tödlich verletzt.“ Der Mann sprach gesellschaftspolitisch Tacheles.
Und er litt. Walther war gebildet und geistreich im Vortrag, witzig und ohne Ende kreativ. Er war Keiner, der auf einer künstlerischen Masche herumreiten musste. Was ihm vom zeitgenössischen Publikum nicht immer gedankt wurde. Oft machten bei seinen Auftritten betrunkene Ritter einen Heidenlärm, und keiner höre ihm zu, so klagte er selbst. Erst um 1220 schließlich, also im Alter von 50 Jahren, sollte sein Herzenswunsch, finanziell abgesichert zu sein, in Erfüllung gehen: Kaiser Friedrich II., in dessen Umkreis er sich schon einige Jahren bewegt hatte, verlieh ihm ein Land- oder Zinslehen. Details sind nicht bekannt.
Walther jubilierte jedenfalls in den höchsten Tönen („Ich hân mîn lêhen“), wie es die kongeniale Übersetzung des Schriftstellers Peter Rühmkorf verdeutlicht: „Ich hab` mein Lehen, Gottnochmal, ich hab` mein Lehen. / Jetzt brauch` ich nicht mehr furchtsam in den Frost zu sehen / und reichen Knickern um den Bart zu gehen.“ Ab jetzt laufe er nicht mehr als „grauer Trauerschatten“ durch die Welt. „Mein Los war dies: ich war zu lange blank. / Dass ich vor Missgunst manchmal aus dem Rachen stank“, so Walther. „Heut kann ich wieder atmen, Friederich sei Dank." Das war dem von der Vogelweide, der trotzdem weiter fahrender Sänger blieb, in seinen letzten Jahren nur zu gönnen.
Der Artikel erschien am 5. September 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Rezension: Der Büchermensch, der zum Rassisten wurde
"Die rechtschaffenen Mörder": Am 17. September holt der Verein LeseKultur Godesberg den Schriftsteller Ingo Schulze ins Bonner Schauspielhaus.
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Der Mann, den die Polizeibeamten da zum Verhör in einem Kaff in der Sächsischen Schweiz aufsuchen, entpuppt sich als einfach nur widerlich. Diesen vormals hochangesehenen Antiquar Norbert Paulini aus Dresden pflegen seine letzten Verehrer zwar immer noch „Prinz Vogelfrei“ zu nennen. Dann leuchten seine Augen, vermerkt der ebenfalls Dresdener Schriftsteller Ingo Schulze in seinem neusten Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Kann ein DDR-Büchermensch wie Paulini Jahre nach der Wende wirklich in fremdenfeindliche Ausschreitungen verwickelt sein? Die Polizisten konfrontieren ihn mit übereinstimmenden Zeugenaussagen. Und zwar auch über seinen Sohn, der sich mit Wehrmachtsstahlhelm und Totenkopf-T-Shirt zu kleiden pflegt.
Plötzlich zieht Paulini, der zuvor für das intellektuelle Dresden Buchlesungen und Vorträge veranstaltete, ansatzlos vom Leder. „Kümmert Sie das nicht, dass ich hier oben hausen muss, während sich eine Million frisch zugereister junger Männer aussuchen darf, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederlassen darf, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen?“ prasselt es auf die Polizisten nieder. Ob sie das gerecht fänden? Er habe nichts gegen Ausländer, nein, fährt Paulini fort. Aber man wolle doch lieber unter sich bleiben. An anderer Stelle wird er weiter hetzen. Selbst im Bordell heiße sein Grundsatz: „keine Kanaken, keine Schwarzen, und überhaupt, Vorsicht bei Ausländern, Ausländer nur im Notfall.“ Der Hölderlin-Liebhaber ist zum Menschenhasser mutiert.
Wie wird ein aufrechter Büchermensch im Osten Deutschlands in den 2000er Jahren zum Reaktionär, ja zum Sprachrohr extrem rechter Parolen? Das ist die Frage, die aktuell an spektakulären Fällen wie etwa dem der Dresdener Buchhändlerin Susanne Dagen diskutiert wird. Die inszeniert seit einiger Zeit stolz ihre Nähe zu Pegida und Akteuren wie Ellen Kositza und deren Mann Götz Kubitschek, dessen „Institut für Staatspolitik“ vom Verfassungsschutz zum Rechtsextremismus-Verdachtsfall erklärt wurde. Ingo Schulze hat selbst in Dagens „Kulturhaus Loschwitz“ gelesen. Das ist bei ihm aber im Gegensatz zum Kollegen Uwe Tellkamp lange vorbei. Sein neues Buch habe mit Dagen wirklich nichts zu tun, stellte Schulze kürzlich unwirsch klar. Und setzte ein selbstbewusstes „Das wäre auch zu viel der Ehre gewesen“ oben drauf.
Aber natürlich bespielt seine Hauptfigur die Klaviatur zum Thema: warum ein Büchermensch in der Realität plötzlich genau gegen die hehren Werte klassischer Literatur verstößt. Denn der Ich-Erzähler der ersten Buchhälfte ertappt den einst so verehrten Antiquar Paulini irgendwann dabei, wie der „zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab“ gewechselt ist. Zuvor hatten den Leser zwar schon „die Kälte des Blicks“ und die „Wildheit“ in Paulinis Augen aufmerken lassen: Dieser von der trostlosen DDR-Wirklichkeit abgekapselte Bücherwurm war keineswegs harmlos. Doch ein halbes Buch lang lässt Schulze seinen Ich-Erzähler in fast legendenhaftem Ton den Lebensweg eines Mannes zeichnen, den regelrecht sinnliche Liebe zum Buch prägt. „Dabei liebkosten seine Handflächen und Finger die Bücher, schmiegten sich an sie oder strichen sanft über deren Verletzungen.“ Selbst mit seiner Frau und seinem Sohn kann der Mann im grauen Arbeitskittel letztlich nichts anfangen. Die gesellschaftlichen Risse in der DDR ignoriert er. Um nach der Wende umso abrupter auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden.
Der DDR-Geheimdienst las sozusagen immer mit: Paulinis Ehefrau entpuppt sich als Stasi-Spionin, die die kleine Literaturszene bis 1989 unter Kontrolle hatte. Angewidert wenden sich die von ihr verratenen Bewunderer ab. Für einen wie Paulini bricht schließlich alles zusammen: Die Ehe wird geschieden, das Haus enteignet, ein Hochwasser holt sich das Gros der Bücher. Im Kapitalismus ist sein Beruf zum Scheitern verurteilt. Es bleibt nur die Flucht ins sächsische Kaff und der mickrige Verdienst eines kleinen Versandbuchhandels. Geschildert wird der Mitleid erregende Abstieg eines Kopfmenschen – bis der seine hässliche Seite outet, dem Hass verfällt und politisch verführbar wird.
Das ist aber nur die eine Geschichte im Buch. Im zweiten Teil wird ein Schriftsteller „Schultze“ das Wort ergreifen. Der hat, wie es sich herausstellt, die erste Hälfte geschrieben, um noch einmal jene Welt zu beschwören, die doch angeblich über die Zeiten und Systeme hinweg „zum Bollwerk wird gegen das, was uns Büchermenschen bedroht“. „Schultze“ wird erkennen, dass er genau damit auf dem Holzweg war. Und dann wird Ingo Schulze noch eine dritte Wendung einbauen, indem er die Lektorin des Manuskripts auf Recherche in die Sächsische Schweiz schickt, weil sie wiederum dem Erzähler „Schultze“ nicht mehr traut.
Um Mörder im Sinne eines Krimis geht es also nicht unbedingt in Schulzes Roman. Eher um Abgründe, die gerade hinter jedem angeblichen Helden lauern. Und um Wendungen, die der Leser noch bis kurz vor Ende des Buchs kaum erwartet hätte. Der Autor hat dafür spannende 318 Seiten lang wunderbar Fährten gelegt.
Im Handel erhältlich: Ingo Schulze: „Die rechtschaffenen Mörder“, S. Fischer Verlag 2020, 318 Seiten, 21 Euro
Lesung von Ingo Schulze: 17. September, 19.30 Uhr, Schauspielhaus Bonn, Am Michaelshof 9, Eintritt: 18 Euro im Vorverkauf, Tel. 0228 / 35 21 91, E-Mail: info@parkbuchhandlung,de
Der Artikel erschien am 5. September 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Das "Experiment". Wie Kinder an Pädophile vermittelt wurden
Jahrzehntelang wurden Kinder bewusst an pädophile Pflegeväter vermittelt – offenbar nicht nur in Berlin: Das ist Thema einer aktuellen Studie des Berliner Senats
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Wie Sven (Name von der Redaktion geändert) einst in den Haushalt von Fritz H. kam, das hat die Berliner Zeitung im Februar 2020 recherchiert. Der 1990 sechsjährige Sven sei verwahrlost und mit Schnittwunden übersät von der Berliner Polizei aufgegriffen worden, schreibt das Blatt in einem Exklusivbericht. Der Kindernotdienst habe den Straßenjungen, für den sich keine Verwandten meldeten, wegen einer Hepatitis-Erkrankung ins Krankenhaus gesteckt. Und dort sei plötzlich der alleinstehende Fritz H. mit einem Geschenk aufgetaucht, was den einsamen Jungen natürlich freute. Der fremde Besucher habe alsbald bekundet, dass er Sven als Pflegekind aufnehmen wolle. „Außerdem sei er interessiert, ob bei dem Jungen ein HIV-Test, und wenn ja, mit welchem Ergebnis veranlasst wurde“, habe die Klinik damals notiert.
Offenbar habe das zuständige Jugendamt daran nichts merkwürdig gefunden, dass ein potentieller Pflegevater vor allem eine mögliche Aidserkrankung des Jungen ausschließen wollte. Das Amt habe also den schwer vermittelbaren Sven auch wirklich in den Haushalt des Fritz H. gegeben, fährt die Berliner Zeitung in ihrem Exklusivbericht fort. Immerhin waren da seit 1973 schon einige Außenseiter-Kinder belassen worden. Bis 2003 brachte Fritz H. insgesamt neun Jungen gegen Pflegegeld in seine Wohnung – und alle Neun seien Opfer von H.s sexuellen Übergriffen geworden, sagte jetzt im Rückblick Marco (Name geändert), der wie Sven über Jahre Pflegekind im Haushalt war, der Berliner Zeitung. „Wir waren sein Besitz.“
Niemand im zuständigen Jugendamt habe sich für das Schicksal der Jungen interessiert, so Marcos Behauptung, weil der damalige „Pädagogik-Papst“ Helmut Kentler, zu der Zeit Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover, mit speziell gefertigten Gutachten pädophile Männer wie Fritz H. gedeckt habe. Und dann seien weder Kentler und Fritz H., die beide inzwischen verstorben sind, noch Mitarbeiter der Berliner Jugendhilfe jemals strafrechtlich belangt worden. Sie selbst jedoch, die Betroffenen, hätten im Leben nie Halt gefunden. Marco und Sven leben von Sozialhilfe. Seit sie sich ihrer furchtbaren Vergangenheit stellen, befinden sie sich im Ausnahmezustand. Nur Marco kann mit den Medien reden. Sven wühle das Sprechen über Fritz H. zu sehr auf, schreibt die Berliner Zeitung. Sven denke verstärkt an Suizid.
Was sich wie der Plot eines makabren Horrorfilms anhört, entpuppt sich spätestens seit dem 15. Juni 2020 als erschreckende Realität. Da stellten nämlich Sandra Scheeres, Berlins Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, und ein Wissenschaftsteam der Universität Hildesheim um die Professoren Meike Baader und Wolfgang Schröer den von der Senatorin in Auftrag gegebenen Abschlussbericht einer sogenannten Kentler-Studie vor. Um das Wirken des Zeit seines Lebens bestens vernetzten Professors in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe Berlins sollte es gehen. Und bei der Vorstellung der Studie Mitte Juni sagt Senatorin Scheeres Sätze wie: „Der Kentler-Skandal reicht lange in die Vergangenheit zurück und ist für die Betroffenen doch nie vorbei.“ Was Kindern und Jugendlichen damals angetan wurde, sei zutiefst erschütternd. „Mein besonderer Dank gilt den Betroffenen, die sich an der Aufarbeitung beteiligt haben.“ Und damit meint Scheeres die beiden ehemaligen Pflegejungen Sven und Marco aus der Berliner Zeitung.
2016 hatte für das Göttinger Institut für Demokratieforschung Teresa Nentwig ein erstes Gutachten zum Thema vorgelegt. Nentwig hatte belegt, dass Kentler Pädosexualität, also das sexuelle Interesse Erwachsener an Kindern, sowie Pädasterie, den Vollzug sexueller Handlungen an Minderjährigen, im Rahmen eines sogenannten Experiments verharmlost habe. Im Rahmen dessen seien in Berlin seit den 1970er Jahren über drei Jahrzehnte Pflegekinder bewusst bei pädophilen Männern untergebracht worden. Auf das Gutachten hin hatten sich Sven und Marco bei den Berliner Behörden als Betroffene gemeldet und waren in der neuen Studie miteinbezogen worden. Der aktuelle Studienbericht liefere nun ein klareres und umfassenderes Bild von den Vorgängen, konstatiert die Senatorin.
Der Bericht fördere neue Erkenntnisse zu Kentlers Rolle, aber auch zu den Strukturen und Verfahren der damaligen Zeit und zu den Verantwortlichkeiten zutage. „Er entlarvt Kentlers Rede von einem Experiment der Erziehungs- und Bildungsreform als beschönigende Darstellung des sexuellen Missbrauchs von Pflegekindern“, sagt die Senatorin. Und so bestätigt die Studie denn auch schwarz auf weiß die auf den ersten Blick so haarsträubenden Schilderungen der beiden Betroffenen über ihre qualvolle Kindheit. Der alleinstehende Mechaniker Fritz H. habe nämlich weder eine pädagogische Qualifikation noch einen guten Leumund besessen, als das Jugendamt 1973 bei ihm eine bezahlte Pflegestelle einrichtete: Fritz H. war vorbestraft. Er hatte bei der Bundeswehr einen Geldschrank gewaltsam geöffnet.
Völlig abstrus verlief auch die Entsendung der Kinder: Fritz H. holte sich über die Jahre selbst Jungen, die ihm gefielen, aus Heimen, Problemfamilien oder von der Straße zu sich, was ihm Mitarbeiter des Jugendamts im Nachhinein absegneten. Ihm gelang es sogar, eine heilpädagogische Pflegestelle, die höhere Geldleistungen versprach, anerkannt zu bekommen. Der neue Bericht zeigt auch: Tauchten dann doch einmal kritische Nachfragen speziell von weiblichen Amtsmitarbeitern auf, habe Fritz H. über seinen Anwalt mit dem Abbruch der Inpflegenahme der als schwierig geltenden Kinder gedroht und den Schriftverkehr ans Amtsgericht weitergeleitet. Die Folge: Die Pflegegelder flossen weiter. Und im Vermerk des Jugendamts hieß es lapidar: „Da wir keinerlei Alternative haben, scheint uns die Unterbringung im Haushalt des Herrn H. zum jetzigen Zeitpunkt die beste Lösung.“
Auch anwaltliche Forderungen leiblicher Eltern, ihre Jungen einmal wiederzusehen, habe Fritz H. abgeschmettert, schildert der Bericht. Und selbst als ihm 1977 ein Strafverfahren wegen Kindesentziehung drohte, das nur „mangels Beweise“ eingestellt wurde, habe er beim Berliner Jugendamt weiterhin jegliche Freiheiten genießen können. Denn entscheidend für die Reputation dieses vorbestraften Mannes sei, so die neue Studie, der Einfluss des bekannten Herrn Professors gewesen. Der Abschlussbericht zeigt, „dass Kentler auf verschiedenen Ebenen – auf der Ebene der Senatsverwaltung wie auf der Ebene der Bezirksämter – agiert, eingegriffen und gesteuert hat.“ Er war von 1966 bis 1974 Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin gewesen und streckte danach als Professor und Gutachter von Hannover aus weiter seine Fühler an die Spree aus. Im Fall des Fritz H. und der neun ihm anvertrauten Kinder spielte sich Kentler gar als Instanz auf.
Ein „befähigter Pädagoge“, ja ein „Glücksfall für das Pflegekind“ sei Fritz H., urteilte Kentler in einem ungefragt eingesandten Gutachten. Der alleinstehende Mann sei den Jungen ein „guter Freund und Vater“, urteilte der noch in den 1990er Jahren gefeierte Pädagoge über die Berliner Fälle. Gut zwei Jahrzehnte später klassifiziert sie die Berliner Verwaltung nun als abschreckende Beispiele massiver Gewaltanwendung an Kindern. Mit Nachdruck betone man, schreiben die Verfasser der neuen Studie, dass Kentlers Wirken nicht einfach im Kontext der damaligen Zeit zu betrachten sei, wie viele Interpreten noch immer argumentierten. Bei den Betroffenen habe es sich um schützenswerte Kinder gehandelt. Was im von Professor Kentler protegierten Fall Fritz H. gelaufen sei, sei schwerwiegender sexueller Kindesmissbrauch gewesen.
Kentler habe in Berlin schon Ende der 1960er Jahre sozialpolitisch an vorderster Front agiert, erinnert die Studie. Da habe er mit veranlasst, dass in der Nähe des Berliner Bahnhofs Zoo Pflegestellen bei „drei Hausmeistern“ eingerichtet wurden, die wegen sexueller Übergriffe mit Minderjährigen vorbestraft waren. Es seien dort im Rahmen der städtischen Jugendhilfe also Straßenkinder in dem Bewusstsein und geradezu mit der Intention untergebracht worden, dass es „sexuelle Kontakte“ zwischen den erwachsenen Männern und den Kindern geben würde, formuliert die Studie. Und die Einrichtung dieser Pflegestellen bei pädophilen vorbestraften Männern sei „möglicherweise mit Kenntnis oder sogar Billigung der West- Berliner Verwaltung, vermutlich jedenfalls mit Kenntnis einzelner Mitarbeiter der Senatsbehörde“ gelaufen.
Mit der neuen Studie werden diese Vorwürfe nun im Fall der angeblichen heilpädagogischen Pflegestelle des Mechanikers Fritz H. untermauert. Von 1973 bis 2003 konnte der als cholerisch geschilderte Mann ungehindert Kindern Gewalt antun, wie die Studie belegt. Und, was heute kaum zu fassen ist: H.s Förderer, der hochgelobte Professor Kentler, dürfte sich der Strafbarkeit des sogenannten Berliner Experiments mit pädophilen Pflegevätern bewusst gewesen sein, „da er zum einen erst nach der Verjährungsfrist öffentlich zu seinem „Experiment“ Stellung nimmt und er zum anderen Hinweise verwischt, auch auf der Ebene der Dokumente, die er hinterlässt“, bestätigt die neue Studie. Die Göttinger Forscherin Teresa Nentwig hatte 2016 zudem herausgefunden, dass der homosexuelle Kentler sich auch selbst zu Jungen "hingezogen fühlte" und mit Pflegesöhnen lebte.
Im Zuge der Aufarbeitung hat sich inzwischen ein weiterer Betroffener bei der Universität Hildesheim gemeldet, der als Jugendlicher in einer anderen Pflegestellen untergebracht war und ebenfalls von Übergriffen berichtet. Man gehe ohnehin davon aus, „dass es ein Netzwerk in den wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen seit den späten 1960er Jahren in der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung und in einzelnen Berliner Bezirksjugendämtern gab, in dem pädophile Positionen akzeptiert und verteidigt wurden“, schreiben die Autoren der neuen Studie. Der Kreis weitet sich auf erschreckende Weise.
Personen aus diesem Zusammenhang hätten ihren Einfluss genutzt, um vorpubertäre Kinder bei pädophilen Männern in Pflegestellen, in Einrichtungen der Jugendhilfe oder in Internaten in Westdeutschland unterzubringen. Kontakte auch zur ehemaligen Odenwaldschule, wo Missbrauch nachgewiesen wurde, hätten von Berlin aus bestanden.
Einige Akteure in diesem Netzwerk hätten wie Kentler aufgrund ihrer beruflichen Position hohes Ansehen genossen. „Aus Sicht der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie besteht im Zusammenhang mit diesem mutmaßlichen Netzwerk und den bundesweiten Bezügen ein weiterer Aufklärungs- und Forschungsbedarf“, kündigt dazu Senatorin Scheeres an.
Sven und Marco, die beiden Betroffenen aus dem Haushalt des Fritz H. in Berlin, dürfte die Entwicklung Auftrieb geben. „Als Land Berlin übernehmen wir Verantwortung für das Leid, das Schutzbefohlenen in öffentlicher Verantwortung angetan wurde“, sagt die Senatorin Mitte Juni. Man werde mit den Betroffenen Gespräche über eine finanzielle Anerkennung ihres Leids führen.
Der erste und einzige Versuch, Beteiligte vor Gericht zu bringen, war da auf jeden Fall schon fehlgeschlagen. Marco hatte 2017 Klage auf Mitwisserschaft gegen einen langjährigen Jugendamtsbetreuer erhoben. Fritz H. und Helmut Kentler waren ja, da verstorben, nicht mehr zu belangen. Das Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt. Das Gericht sah es zwar als zweifelsfrei an, dass es „zumindest bis zur Vollendung seines 14. Lebensjahres… zu schwerwiegenden sexuellen Übergriffen bis hin zum regelmäßigen Analverkehr durch den Beschuldigten H. gekommen“ sei. Doch leider sei aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar, „welche pädagogische Idee die Berliner Jugendämter verfolgt haben“, als sie wehrlose Kinder zu alleinstehenden Männern geschickt und sich „weitgehend einer Kontrolle der Pflegschaftsverhältnisse enthalten haben.“
Online zu lesen: Meike S. Baader, Carolin Oppermann, Julia Schröder, Wolfgang Schröer, Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe, Universität Hildesheim, Juni 2020, https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1092
Der Artikel erschien am 1. August 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Fotoausschnitt "Die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen", Bonn, Ebba Hagenberg-Miliu
Rache für Tuffi: Als ein Elefant aus der Schwebebahn sprang
Vor 70 Jahren, am 21. Juli 1950, sprang ein leibhaftiger Elefant aus der fahrenden Wuppertaler Schwebebahn. 2019 setzten sich vor Ort bei einer Aktion anonyme Graffiti-Sprayer für den Tierschutz ein
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Das hätte böse enden können, als am 21. Juli 1950 Zirkusdirektor Franz Althoff mit seinem vierjährigen Elefantenmädchen Tuffi in die Wuppertaler Schwebebahn stieg. Der Chef des gleichnamigen Wanderzirkus war, wie mit den Stadtwerken und der Presse vereinbart, gegen 10 Uhr gut gelaunt mit dem kleinsten Mitglied seiner berühmten Elefantentruppe an der Station Alter Markt in Barmen angelangt. Die 1946 in Indien geborene Tuffi trainierte nun schon ein Jahr unter seiner Anleitung. Als erfahrene Dresseur lobte Althoff „die Kleine“ als besonders gelehrig, ausgeglichen und geduldig: Tuffi sollte an diesem Sommermorgen für sein Unternehmen auch in Wuppertal die ideale Werbefigur spielen.
Der schnauzbärtige Herrn Direktor war im Anzug mit Hut und Sonnenbrille erschienen. Der zirka eineinhalb Meter hohen Tuffi war dekoratives Zaumzeug angelegt. Um sie herum kreisten ein 12-jähriger Junge in Lederhosen, der Direktorensohn Harry, und ein Zirkusangestellter in Uniform. Harry hatte eine sogenannte Elefantenkralle in der Hand: ein Holzgerät, mit Hilfe dessen man Dickhäuter sicherer führen kann. Doch das schien bei Tuffi gar nicht nötig zu sein. Am Fahrkartenschalter verlangte Althoff jedenfalls fünf Fahrscheine: einen für sich und vier, der zu transportierenden Masse wegen, für die immer noch freundliche Elefantin. Die gab dabei gleich noch eine Kostprobe der Dressurkunst: Zur Freude der sich drängelnden Fotografen nahm sie die Fahrscheine mit dem Rüssel an und gab sie an dem Chef weiter. „Bravo“ kam es aus der Menge der Zuschauer.
Die 1950 berichtenden Zeitungen waren sich über Tuffis Kampfgewicht übrigens nicht ganz einig: Die einen gaben es hernach mit 200, andere mit 700 Kilogramm an. Die Wahrheit dürfte wohl irgendwo dazwischen gelegen haben. Nun stiegen die Althoffs mit dem Elefantenmädchen noch ein paar Stufen zum Bahnsteig. Jetzt hieß es, auf den nächsten Zug zu warten. Um die Elefantin herum sammelten sich immer mehr neugierige Zuschauer, wie man auf Fotos sieht: lachend, gestikulierend und kommentierend. Endlich fuhr um 10.30 Uhr quietschend die Schwebebahn ein. Die Menschentraube stand mit Tuffi am Einstieg für Waggon 13. Da gab Althoff dem Tier ein Signal. Und das schwere Mädchen setzte die Vorderbeine vorsichtig in den schwankenden Waggon.
Einige Male zuvor hatte sich der 1908 in der Nähe von Bonn geborene Zirkusdirektor schon bei Werbeaktionen auf die gelehrige Tuffi verlassen können. An jedem Auftrittsort pflegte er mit ihr den Kartenverkauf anzuheizen. In Solingen hatte Tuffi klatschenden Bauarbeitern Bierkästen ans Gerüst transportiert. In Duisburg machte sie eine Hafenrundfahrt mit. Ein Menschenauflauf und aufgeregte Reporter waren Althoff jedes Mal sicher. Und auch als die Elefantin in Altötting mit einem „Kollegen“ den Weihwasserbrunnen fast leer soff, freute sich eigentlich jeder über die lustige Aktion. In Oberhausen war Tuffi mit dem Chef ein paar Tage vor dem Wuppertaler Auftritt in der Straßenbahn gefahren, hatte im Rathaus kurzerhand eine Zimmerpflanze und einen Blumenstrauß als Grünzeug gefressen - und dann ein Bächlein auf den Teppich rinnen lassen. Althoff hatte lächelnd die Reinigung bezahlt – und für seinen nächsten Stopp den aufsehenerregenden Besuch der Schwebebahn geplant.
Am Wuppertaler Bahnsteig hatte die Zirkus-Crew am Morgen des 21. Juli 1950 inzwischen die schwere Tuffi ins reservierte Abteil des schwankenden Waggons bugsiert. Unwillig sah Direktor Althoff im Augenwinkel, dass sich hinter ihnen noch schnell zahllose Menschen ins Abteil schoben. So hatte er das nicht geplant. Die Aktion drohte aus dem Ruder zu laufen. Eine Zeitzeugin sollte hernach zu Protokoll geben: „Der Schaffner war sehr aufgeregt und schrie immer: Ruhe bewahren! Ruhe bewahren!“ Aber genau das sollte im Waggon 13 nicht gelingen.
Viele Jahre danach erläuterte Harry Althoff, damals der Direktorensohn in Lederhosen, Tuffi habe zuvor schon einige Fahrten in Straßenbahnen unternommen und sich so schnell von nichts beeindrucken lassen. Wackelnde Züge machten dem Tier offensichtlich nichts aus. Doch an diesem Sommertag sei das Gedränge einfach zu groß geworden. „Die Journalisten waren schuld. Die wollten in der Schwebebahn alle das beste Foto schießen", erinnerte sich Harry Althoff 2005. Die Elefantin versuchte sich zu drehen, um zu sehen, was hinter ihr geschah. Doch die Fotografen rückten ihr weiter auf den Leib. Noch nicht zwei Minuten nach dem Start eskalierte die Situation.
Das verschreckte Tier zertrümmerte einen Fotoapparat. Ein Mann stürzte. Es herrschte Chaos im Waggon. Tuffi ließ sich nicht mehr führen. Wahrscheinlich seien in ihr böse Erinnerungen hochgekommen, vermutete Harry Althoff später. „Sie hatte als kleiner Elefant bei ihrem Transport aus Asien in einer Kiste gesteckt und wusste, dass sie dem Licht folgen muss, um herauszukommen." Nun in der Schwebebahn sei das Licht hinter den Fensterscheiben gewesen. Das Resultat: Die schwergewichtige Passagierin stieg auf eine Sitzbank vor dem Fenster. Die stürzte zusammen. Den nächsten Anlauf startete Tuffi direkt gegen die Seitenwand, die sofort brach. Und mit einem Satz war das Tier wenige hundert Meter hinter der Einstiegshaltestelle durch das Loch im Abgrund verschwunden.
Dass es an diesem Julimorgen mitten in Barmen ein Happyend gab, war nur dem Zufall zu verdanken. Tuffi selbst war nach ihrem zehn Meter tiefen Sprung in der Wupper gelandet. Die Bahn hatte glücklicherweise schon die Straße überquert. Der Fluss war an dieser Stelle einen halben Meter tief und am Boden schwammig weich, so dass der Aufprall abgefedert wurde. Der Tierarzt sollte später nur ein paar leichte Schrammen am Hinterteil der Elefantin entdecken. Im Waggon selbst hatte es trotz der gefährlichen Enge mit einem verstörten Tier nur einen leichtverletzten Fotografen gegeben. Seine Kollegen waren jedoch so geschockt, dass keiner es schaffte, beim legendären Elefantensprung auf den Auslöser zu drücken. Bei allen im Fernsehen, in Zeitungen, Büchern und auf Postkarten aufgetauchten Bildern sollte es sich bald nur um mehr oder minder gute Fotomontagen handeln. Tuffi hatte also letztlich über die sie bedrängenden Menschen triumphiert.
Zirkusdirektor Althoff war nach dem Absprung seines Schützlings völlig aufgewühlt zurückgeblieben. Die übrigen Kabineninsassen konnten ihn nur mit vereinten Kräften davon abhalten, seinem Elefanten in den Fluss nachzuspringen. Problemlos fuhr die Bahn mit zerstörter Flanke die kurze Strecke weiter zur nächsten Haltestelle. Und von dort aus rannten Althoff Senior und Junior sowie ihr Zirkusmitarbeiter zurück zur Unglücksstelle - wo die gute Tuffi schon wieder aufgerichtet und im Schlamm watend Wupper-Wasser schlürfte und sich friedlich zum Zirkus zurückführen ließ. „Ich bin an der Haltestelle raus und dann zurück", erinnerte sich später auch der Journalist Helmut Köhler, der mit im Waggon 13 gewesen war. „Da haben wir dann die Bilder gemacht, wie der Elefant im Wasser steht, und dann war die große Sensation fällig."
Franz Althoff war schließlich Profi genug, um speziell seine Tuffi in der Vorstellung am Abend desselben Tages wieder auftreten und das Geschehen gleich in seine Moderation mit einfließen zu lassen. Weniger lustig ging es bald darauf vor Gericht zu. Althoff habe sich durch den Kauf von Tickets mit den Beförderungsbedingungen der Schwebebahn einverstanden erklärt und sei wegen fahrlässiger Transportgefährdung zu verurteilen, meinten die Richter. Auch wenn die Belastungstoleranz des Fahrzeugs nicht überschritten wurde, sei offensichtlich, dass sich die Schwebebahn als Transportmittel für Elefanten nicht eignete. Althoff und dem Leiter der städtischen Verkehrsabteilung wurden deshalb Geldbußen von je 450 Mark aufgebrummt. Was der Zirkusdirektor letztlich verkraftet haben dürfte.
Er und seine Tuffi hatten sich an diesem Julimorgen 1950 mit dem sensationellen Geschehen, das auch noch gut ausging, bis heute ins Gedächtnis der Wuppertaler eingebrannt. In der inzwischen 119-jährigen Geschichte der Schwebebahn, die heute auf 13.3 Kilometern täglich über 80.000 Passagiere durch das dicht bebaute, lange Flusstal transportiert, hatte das Ereignis sofort einen Ehrenplatz. Der noch dazu so putzige Elefantenname Tuffi prangte bald darauf auf sämtlichen Milchprodukten einer anfangs Wuppertaler Molkereifirma. Schon Generationen von Kindern in NRW haben in der Grundschule ihre Tuffi-Milch getrunken. Aus aller Welt kamen und kommen Touristen nach Wuppertal, nicht nur, um die Geburtsstadt von Friedrich Engels und Else Lasker-Schüler, sondern auch den Ort des legendären Elefantensprungs zu besichtigen. Wenngleich die berühmte Tuffi selbst schon 1968 beim Verkauf von Althoff an einen französischen Zirkus ging, wo sie 1989 im Alter von 43 Jahren starb.
Der Euphorie um das ehemalige Elefantenmädchen tat das keinen Abbruch. Die WDR-„Sendung mit der Maus“ gastiert mit ihrem übergroßen tiefblauen Plüschelefanten besonders gerne in der Schwebebahn. Wuppertals Touristenläden quellen über vor Souvenirs im Elefantenformat. 2017 produzierten Manfred und Liesa Schneck einen 3D-Animationsfilm, der für die Schwebebahn-Ausstellung noch einmal alle Details des legendären Wuppersprungs unterhaltsam mit Musik zusammentrug. Am 6. Oktober 2019 aber nahmen bis heute unbekannte Graffiti-Sprayer noch einmal effektvoll „Rache für Tuffi“, wie sie es bei der auf Video festgehaltenen Guerilla-Aktion auf einen stehenden Schwebebahnwaggon sprayten. Offenbar wollten die jungen Leute aus der Streetart-Szene für eine artgerechte Tierhaltung protestieren. Die Bahn fuhr eine ganze Weile mit "Rache für Tuffi"-Graffiti durch die Stadt. Das Video ist ein Online-Hit.
Der historischen Tuffi selbst dürfte das wohl gefallen haben. Längst sind die massiven Gesundheitsschäden und schweren Verhaltensstörungen, die gerade exotische Wildtiere im Zirkus erleiden, bekannt und deren Haltung in vielen Ländern verboten. Einen Elefanten aber sogar noch zu zwingen, in eine Schwebebahn zu steigen, darauf würde heutzutage wohl kein Eventmacher mehr kommen.
Der Artikel erschien am 18. Juli 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Werbefoto: www.schwebebahn.de
Geliebte Gabi: Ein katholisches Mädchen stirbt in Auschwitz
Ein katholisches Mädchen wächst unbeschwert im Allgäu auf – und wird 1943 nach Auschwitz ins Gas geschickt. Buch, Film und Ausstellung gedenken eines geliebten Kindes
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Ratternd fährt der Wehrmachtszug am Morgen des 13. März 1943 aus München hinaus Richtung Ostfront. An der Hackerbrücke sind noch ein paar Güterwaggons angekoppelt worden. In einem von ihnen schnappt die gerade einmal fünfjährige Gabriele Schwarz hilflos nach Luft. Sie ist in diesem schmutzig stickigen Zugwagen mit an die 60 Menschen zusammengepfercht. Die Türen sind von außen verriegelt. Niemand kann sitzen oder liegen. Der Waggon ruckelt. Die kleine blondlockige Gabi und weitere acht Kinder aus dem gerade geräumten bayerischen Sammellager Berg am Laim müssen sich gegen die Wucht der Erwachsenenkörper behaupten.
Vier Tage wird die qualvolle Fahrt dauern. In Nürnberg wird der Zug wegen Fliegeralarms stoppen. Der bewaffnete SS-Mann an der Waggontür wird überstürzt aussteigen und ein paar Stunden Schutz vor den dröhnenden Bomberflugzeugen der Alliierten suchen. Die im Waggon Eingesperrten werden jammern und klagen. Dann wird der Horrorzug weiterfahren. Auf freier Strecke wird er noch einmal in eisiger Kälte halten, damit die SS-Leute tote Kinder und Alte aus den Waggons neben die Gleise werfen können. So hat es der bayerische Autor und Filmemacher Leo Hiemer anhand von Aussagen in Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Münchener Gestapo-Beamte von 1951 für sein Buch recherchiert. Es heißt nüchtern „Gabi (1937-1943). Geboren im Allgäu. Ermordet in Auschwitz“.
Als sie vorhin an der Münchener Hackerbrücke noch von Gestapo-Beamten als „Saujuden“ und „Judenpack“ beschimpft und in die engen Waggons getrieben wurden, hat die fünfjährige Kleine wohl immer noch nicht begriffen, was sie mit den anderen ihr allesamt fremden und ebenso verzweifelten Menschen eint: In diesen überfüllten Waggons schaffen die Nazis im März 1943 die letzten 220 von ihnen als Juden klassifizierten bayerischen Mitbürger in die Todeslager. Darunter auch das kleine katholische Mädchen aus dem Allgäu, das sicher gar nicht weiß, was das Wort „Juden“ überhaupt bedeutet. Ist sie nicht die „geliebte Gabi“? Gehört sie nicht in die einfache Bauernfamilie Aichele in Stiefenhofen und bestimmt nicht in den stinkenden Waggon?
Genau einen Monat zuvor haben Josef und Therese Aichele ihre Pflegetochter von einem Tag auf den anderen an den nächsten Bahnhof bringen müssen. Die Berliner Gestapo, der Landrat und der Bürgermeister hatten das kurzfristig angewiesen. Josef Aichele hatte sich noch dagegen zu wehren versucht. Vergeblich. Als Bürger, der nicht in die Nazipartei hatte eintreten wollen, war er sofort abgeblitzt. Vom Bahnhof aus ist die kleine Gabi von einer „Jugendfürsorgerin“ zum Münchener Sammellager überführt worden: ein zu Tode erschrockenes Mädchen, das erstmals von seinen über alles geliebten „Mama“ und „Papa“, eben die Aicheles, getrennt wurde. Den verzweifelten Pflegeeltern brach es das Herz.
In einem Köfferchen hatten sie dem Kind noch ein paar Habseligkeiten und oben drauf ein gemeinsames Foto von glücklichen Tagen gepackt. Doch die geliebte Gabi sollte den Koffer nie öffnen und wenigstens das Foto als Erinnerung behalten dürfen. Denn kurze Zeit später kam das Gepäckstück wieder an den Aichele-Hof zurück, hat Buchautor Leo Hiemer recherchiert. Dieses katholisch getaufte und erzogene Kind hatte in der Nazidiktatur nicht das Recht, etwas von „Ariern“ anzunehmen – weil es zum Teil jüdischer Abstammung war. Der knorrige, aber herzensgute Josef Aichele hatte mit dem Dorflehrer noch in München vergeblich versucht zu intervenieren. Doch er hatte nicht mehr erreichen können, als dass er seine geliebte Gabi noch für ein paar Momente das letzte Mal sah: durch ein Schlüsselloch im Lager.
Jetzt wird das hübsche blonde Mädchen also im Güterwaggon fast erdrückt. Von einem Tag auf den nächsten ist sie aus ihrer wohlbehüteten Kindheit und allen familiären Zusammenhängen herausgerissen. Mutterseelenallein unter Fremden wird sie vom 13. bis zum 16. März 1943 nach Auschwitz geschafft. Wer kann sich vorstellen, was die Kleine auf der endlosen Fahrt im überhitzten Zug inmitten ächzender, leidender und sterbender Menschen gefühlt haben mag: ohne Wasser, ohne Nahrung, inmitten von Erbrochenem, Urin, Blut und Kot? Ein Kind, das auf dem Hof der Aicheles seit seiner dritten Woche das pralle Landleben in einer sie schützenden Großfamilie geteilt hatte. Das auf jedem der von ihm erhaltenen Fotos, die Hiemer im Buch veröffentlicht, mit der Sonne um die Wette strahlte.
Wie eine bayerische Heidi aus dem Kinderbuch-Bestseller der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri wirkt Gabi Schwarz auf diesen Schwarzweißbildern: wie sie die Tiere auf dem Hof füttert, wie sie bei der Heuernte hilft, wie sie zu Weihnachten und bei Taufen mitbetet, wie sie vertrauensvoll ihre Hand in die des Pflegevaters legt. Diese Heidi musste unbedingt aus dem Allgäu fort. Dieses Kind musste in einer vom Rassenwahn entmenschlichten Gesellschaft in die Gaskammer. Und alle halfen dabei mit: vom Bürgermeister, der endlich „die einzige Jüdin im Dorf“ loswerden wollte und das Kind abholen ließ, über die „Jugendfürsorgerin“, die "doch auch nur ihren Dienst tat", bis zu den SS-Männern im Zug. Allesamt wussten sie, dass es für die geliebte Gabi und die vielen hunderttausend in den Güterzügen gen Osten Deportierten kein Zurück mehr geben würde.
Regisseur Hiemer hatte schon 1993 den preisgekrönten Film „Leni muss fort“ über Gabis Schicksal gedreht, der sich, so urteilten die Feuilletons damals, ins Herz und Gedächtnis seiner Zuschauer einbrannte. Nur ganz wenig lüftete dieser behutsam schildernde Streifen die Decke der Allgäuer Lebensidylle, um umso nachhaltiger das Grauen darunter zu zeigen. Und das tragische Schicksal des Mädchens ließ Hiemer nicht mehr los. 26 Jahre nach dem Film hat er mit vielen neuen Erkenntnissen und Zeitzeugenberichten noch einmal nachgelegt: in seinem gänzlich sachlichen, damit aber umso verstörenderen Buch. Woraus auch eine vom Bundesministerium für Landwirtschaft geförderte eindrückliche Wanderausstellung entstand, die derzeit viel beachtet durch Süddeutschland tourt.
Und woher kommen die vielen Ausstellungsfotos? Lotte Eckart, geborene Schwarz, die jüdischstämmige, katholisch getaufte leibliche Mutter Gabis, hatte den Aicheles eine Kamera geschenkt, mit Hilfe derer die Pflegefamilie ihr regelmäßig Fotos ihres Kindes schickte. Auf diesen vielen Bildern ist noch heute die mitreißende Lebenskraft dieses fröhlichen Mädchens auf dem Bauernhof zu spüren. Dass die Mordlust der Nazis auch diese Allgäuer Heidi erfassen wird, ist auf anderen Fotos zu erahnen: auf denen von Lotte, der verwitweten, alleinstehenden und im fernen München berufstätigen Mutter, wenn sie zu Besuch kam. Lotte hat die Identität des nicht jüdischen Vaters von Gabi nie gelüftet. Ihm hätte nach Verhängung der „Nürnberger Gesetze“ 1935 wegen des „Verbrechens der Rassenschande“ das Zuchthaus und ihr das Konzentrationslager gedroht. Lotte wusste: Das Kind galt nach der perversen Rassenideologie ebenfalls als „volljüdisch“. Es gab also nur eine Rettung: Gabi musste erst einmal auf einem abgelegenen Hof versteckt bleiben.
Lotte zahlte also für die Pflege, versuchte jedoch parallel, für Gabi und sich die Ausreise nach England oder in die USA zu organisieren. Was ihr nicht gelang, obwohl sie sich auf einen prominenten Fürsprecher, den Münchener Kardinal Michael von Faulhaber, meinte, verlassen zu können. Leo Hiemer hat die jahrelange Korrespondenz zu den 14 Besuchen der verzweifelten Frau beim Kardinal durchgeforstet. Der war ihrem verstorbenen Mann verbunden gewesen. Es hätte seinerseits eines einzigen mutigen Schritts bedurft, meint Hiemer: Lotte und das Kind in einem Kloster zu verstecken oder schnell außer Landes zu schaffen – was nicht geschah. Lotte wurde 1941 an ihrem Arbeitsplatz verhaftet, ins KZ Ravensbrück geschafft und 1942 mit anderen jüdischstämmigen Frauen in der „Nervenheilanstalt“ Bernburg vergast. Ab da war die kleine Gabi nur noch auf ihre Pflegeeltern angewiesen. Und die Maschinerie des Holocaust lief unbarmherzig weiter.
Stiefenhofen, wo Gabi fünf glückliche Jahre verbringen konnte, sei auch für ihn ein gutes Jahrzehnt später ein kleines Kindheitsparadies bei seinen Großeltern gewesen, berichtet Hiemer über seine persönliche Beziehung zum Fall. Seine Mutter habe Gabi sogar noch gekannt. Über Gabis genaues Schicksal habe er aber erst im Erwachsenenalter erfahren, als im Ort nach geschlagenen 40 Jahren des Schweigens Auseinandersetzungen losgingen: Wollte man eine Gedenktafel für das Holocaust-Opfer: ja oder nein? Da habe die Geschichte ihn gepackt. „Ich konnte ihr nicht ausweichen. Ich wollte so nah wie möglich an die Menschen `ran“, sagt der heute 66-jährige Autor. Er habe verstehen wollen, was, wie und warum passierte, „um daraus für unsere Gegenwart und Zukunft zu lernen.“
Und so hat er im Buch auch durchdekliniert, wie die Ermittlungsverfahren gegen sämtliche an Gabis Deportation Mitschuldige Anfang der 1950er Jahre verlaufen sind. Seine Ergebnisse schreien zum Himmel. Denn sogar der Judenverfolger und Nazi-Bürgermeister Johann Seelos, ein Mann wahrlich ohne Seele, kam als sogenannter Mitläufer milde davon. Und selbst die entsprechenden Gestapo-Verantwortlichen wurden nie strafrechtlich belangt. Sie hätten einfach nicht gewusst, wohin die Deportationen gegangen seien, sagten sie aus.
Deshalb treibt Hiemer die Empörung über das Unrecht und die Wut über die Gleichgültigkeit der Menschen bis heute an. Zeige doch gerade diese Geschichte, dass Verfolgung und Tod in einer Tyrannei wie der Nazi-Diktatur jeden treffen könnten, sagt er. „Wer die Menschen in Rassen einteilt, der hat das Messer schon gezogen.“ Und auch die Katholische Kirche habe versagt: „Gabis Glaube wurde verraten. Kein Schutzengel hat sie beschützt, kein Namenspatron gerettet, kein Gebet hat genützt, kein Kirchenfürst hat sich für sie eingesetzt.“ Gerade heute sei es wichtig, die Geschichten der Naziopfer auf immer wieder neue Weise zu erzählen, um die Menschen zu erreichen, betont Hiemer. „Vor allem die jungen. Wir müssen sie gegen die immer wieder neu populären Fantasien von Macht und Größe von Nation, Volk und Rasse immun machen.“
Wichtig sei die Ausstellung, die große Beachtung finde. Hiemer selbst steht besonders gerne Schulklassen fürs Gespräch bereit. Dass kürzlich ein paar Jugendliche vor den Fotos den Hitlergruß gezeigt hätten, will er nicht überbewerten. Das sei doch typisch: Es seien immer die "dummen Jungs", die Kraft und Stärke zeigen wollten, indem sie die Schwachen verachteten. „Das Dümmste, wozu der Mensch fähig ist“, sei das, meint Hiemer.
Von den letzten Stunden der kleinen Gabi erzählt in der Ausstellung übrigens eine Hörstation. Jeder Besucher kann selbst entscheiden, ob er sich der Schilderung des grauenvollen Sterbens aussetzt.
Am Abend des 16. März 1943 wird die kleine Gabi nach der furchtbaren Zugfahrt hungrig, durstig, am Ende ihrer Kräfte und blind vor Angst von brüllenden SS-Leuten auf die Rampe von Auschwitz getrieben und mit den anderen Frauen, Kindern und Alten selektiert. Alsbald geht es mit Lastwagen zum Krematorium. Nackt wird das Mädchen dort inmitten weinender Leidensgenossen in einen Raum eingeschlossen, in dessen Lüftungsschächte die SS das tödliche Nervengift Zyklon B jagt. Nach einiger Zeit heult die Entlüftung auf. Jetzt müssen polnische Häftlinge das Knäuel in sich verdrehter, verkrallter und verkeilter Leichen in die Verbrennungsöfen schleifen. Darunter ist auch ein kleines blondes Mädchen, das sich einen Monat zuvor auf einem Bauernhof im Allgäu von seiner Pflegemutter verabschiedet hatte. Und zwar mit den Worten „Gell, Mama, du betest für mich, und ich bete für euch“. Die geliebte Gabi.
Im Handel erhältlich: Leo Hiemer, Gabi (1937-1943). Geboren im Allgäu, Ermordet in Auschwitz, Metropol Verlag 2019, 24 Euro
Kontakt zu Ausstellung und Film: www.geliebtegabi.de
Gedenktafel für Gabi
Die Erinnerung an die von den Nazis ermordete fünfjährige Stiefenhovener Mitbürgerin aufrechtzuerhalten, das ist für den "Erinnerungskreis Gabriele" seit 35 Jahren eine unendliche Geschichte. 1985 trat der Kreis an die damaligen Amtsträger im Ort, an den katholischen Pfarrer und den Bürgermeister, mit dem Wunsch heran, eine von den engagierten Bürgern selbst gestiftete Gedenktafel in der Kirche aufzuhängen. Vier Jahrzehnte lang war das Schicksal des katholischen Mädchens offiziell totgeschwiegen worden. 1985 entwickelte sich ein regelrechter "Gedenktafelstreit". 1994 wurde die Tafel schließlich im Nachbarort Oberstaufen in der klitzekleinen Spinner-Kapelle aufgehängt. Heute, 35 Jahre später, stimmten der Pfarrer und die Pfarrverwaltung von Stiefenhoven der Bitte des Filmemachers Leo Heimer endlich zu, die Tafel in Gabis Heimatort zu holen. Seit dem 8. Juli 2020 hängt die Tafel in der dortigen Kirche. Angehörige von Gabis Pflegefamilie waren bei dem Akt dabei.
Foto: Ausstellung "Geliebte Gabi"
Der Artikel erschien am 11. Juli 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Über die Nachrichtenagentur epd erschienen weitere Artikel bundesweit:
https://www.sonntagsblatt.de/artikel/autor-dokumentiert-die-geschichte-des-auschwitzopfers-gabi-schwarz
https://www.pressreader.com/germany/graenzbote/20200825/281603832844742
Kino im Kopf: 60 Jahre "Psycho" von Alfred Hitchcock
Am 16. Juni 1960 hatte der Film „Psycho“ von Alfred Hitchcock Premiere in den US- Kinos. Auch 60 Jahre danach fasziniert vor allem seine suggestiv kunstvolle Duschszene
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Als ihre zitternde Hand mit gekrümmten Fingern im Badezimmer über die weiße Kachelwand herunterrutscht, ist die junge blonde Frau im Zimmer Nr. 1 des Motels schon am Sterben. Ein letzter verzweifelter Griff nach dem milchigen Duschvorhang lässt seine Halter schnappend aus den Ösen springen. Im Abguss der Zelle sammeln sich weiter Ströme dampfenden Wassers, in die sich immer mehr Rinnsale von Blut schlängeln. Mit aufgerissenen gebrochenen Augen fällt der Kopf der blonden jungen Frau, die sich eben noch so wohlig unter dem Wasserstrahl abgeseift hatte, auf den Duschrand. Hinter dem Vorhang und damit ihm Rücken der Frau hatte der gebannte Zuschauer von Alfred Hitchcocks Film „Psycho“ von 1960 mit Schrecken eine wohl weibliche Gestalt gesehen, die sich langsam der Duschzelle näherte.
Dann hatte ein gellender Schrei die Wände beben gemacht: Die zu Tode erschrockene Blondine hatte das Brotmesser wahrgenommen, das plötzlich mit schmatzenden Geräuschen in ihren schlanken Körper einstach, immer und immer wieder. Der Frau aus Gästezimmer 1 des verlotterten Motels fern des Highways blieb keine Chance. Nach 45 Sekunden Todeskampf schlug ihr Körper auf dem Duschboden auf. Drei Minuten, die das Blut der Zuschauer gerinnen ließen, hatte diese berühmte Szene der Filmgeschichte insgesamt gedauert. Sieben Tage lang war sie in intensiver Detailarbeit gedreht worden. 78 verschiedene Kameraeinstellungen und danach 52 Schnitte waren nötig gewesen, um dieses Kunstwerk der Filmgeschichte zu schaffen. Untermalt war die Szene von der legendären Musik des Filmkomponisten Bernard Herrmann, dessen stakkatohaftes Streicherstück „The Murder“, also der Mord, bald zu den bekanntesten Themen der Filmmusikgeschichte gehören und später in unzähligen Filmen zitiert werden sollte.
Die kleine Sekretärin Marion Crane, die für ein Leben mit ihrem Geliebten Geld unterschlagen hatte, war auf der Flucht vor ihrem Chef in einem Motel Opfer einer brutalen Messerattacke geworden. Und damit war schon nach einer spannenden halben Stunde der Star des Filmklassikers auf der Leinwand abgetreten. Janet Leigh war bei den Dreharbeiten Ende 1959 eine 32-jährige A-Schauspielerin der US-Filmstudios. Sie hatte für diese Rolle die höchste Gage im Stab, glatte 100.000 Dollar, verhandelt. Doch ihr brüsker Abschied schon eine gute Stunde vor Filmschluss musste die Zuschauer verwirren. Er verstieß grob gegen die Sehgewohnheiten.
Die übrigen zwei Drittel in diesem Psychothriller musste das Publikum mit einem damals noch unbekannten Theater- und TV-Schauspieler Vorlieb nehmen. Der 27-jährigen Anthony Perkins sollte als Darsteller des schizophrenen Mehrfachmörders Norman Bates nur einen Bruchteil von Leighs Gage bekommen, aber mit dieser Bombenrolle im Nu Weltruhm erlangen. Leigh wiederum sollte für ihre Rolle einen Golden Globe und eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin einstreichen.
Aber beim US-amerikanischen Filmstart am 16. Juni 1960 rannten ein paar Zuschauer schreiend aus den Kinosälen heraus. „In dem Moment, in dem der Vorhang sich öffnet und er zusticht, kam ein langanhaltender Schrei aus dem Publikum“, erzählte Peter Bogdanovich, selbst Regisseur, später im Rückblick über die „Psycho“-Rezeption. Zum ersten Mal in der Geschichte des Films habe man sich im Kino nicht mehr sicher fühlen können: Die suggestive Duschszene hatte sich den Menschen ins Hirn gehämmert, obwohl die brutale Handlung selbst eigentlich in keiner Sequenz zu sehen war. Großmeister Alfred Hitchcock hatte auf seine unnachahmliche Art bloß das Kopfkino seiner Zuschauer befeuert. Das aber umso unerbittlicher.
Und dazu war Janet Leigh, der Star, schon nach einem Filmdrittel `raus aus dem Spiel. „Als ich mittags auf den Times Square hinaustrat, hatte ich das Gefühl, vergewaltigt worden zu sein“, schilderte Bogdanovich seine eigenen Gefühle nach dem Kinobesuch. Ein anderer Großer im Filmgeschäft, der französische Regisseur Francois Truffaut, beschrieb „Psycho“, das Meisterwerk des großen Hitchcock, im Zeitraffer folgendermaßen: „Die ganze Konstruktion des Films kommt mir vor, als steige man eine Art Treppe der Anomalie hinauf: zuerst ein Beischlaf, dann ein Diebstahl, dann ein Mord, zwei Morde und schließlich Geisteskrankheit.“
Die Rechte an der Originalstory hatte sich der 1899 in im Londoner East End als Sohn eines Gemüsehändlers geborene „Hitch“ von einem mäßig bekannten Autor gesichert. Dieser Robert Bloch hatte 1959 sein Buch „Psycho“ nach dem regionalen Mordfall des Frauenmörders Ed Gein gestrickt: Und er ahnte nicht, dass er die Buchrechte für nur 9.000 Euro an einen als geizig berüchtigten, weltbekannten Regisseur vergab, der aus dem Film hernach das damals unglaubliche Einspielergebnis von 50 Millionen Dollar herausschlagen konnte. Der korpulente Anzugträger mit dem auch im US-Filmgeschäft schrägen englischen Humor wurde durch „Psycho“ reich.
Dabei war der Mann, der in den 1920er Jahren sein Handwerk in Berlin-Babelsberg bei den deutschen Regiegrößen Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang gelernt hatte, 1959 mit seiner Projektidee „Psycho“ bei den US-Filmbossen erst einmal abgeblitzt. Der Plot sei unsittlich und habe nichts in US-amerikanischen Kinos zu suchen, ließ man „Hitch“ ausrichten. So beschloss der 60-Jährige, der gerade die Kassenschlager „Vertico“ und „Der unsichtbare Dritte“ abgedreht hatte, „Psycho“ auf eigene Faust zu realisieren. Die auch für 1959 bescheidene Summe von 800.000 Dollar für die Produktion trommelte er selbst zusammen. Der Streifen musste billiger in Schwarzweiß gedreht werden, was den Vorteil hatte, dass das Blut in der Duschszene für die zu befürchtende Zensur nicht zu realistisch herüberkam. Am „Psycho“-Stoff gefiel „Hitch“ vor allem die überraschende Ermordung der Hauptfigur, die die Story plötzlich in eine ganz andere Richtung drehte. Dem Kollegen Truffaut erklärte er später einmal: „Ich denke, genau dieser plötzliche und unerwartete Mord in der Dusche reizte mich an der Geschichte am meisten.“
Mit weiser Voraussicht ließ Hitchcock alsbald alle greifbaren Exemplare des Robert-Bloch-Krimis aufkaufen. Niemand sollte das Filmende ahnen können. Sein Projekt lief für die Öffentlichkeit unter dem Codenamen „Production 9401“. Die gesamte Crew war zum Stillschweigen über die Handlung und die Besetzungsliste verdonnert. Auf keinen Fall durfte herauskommen, dass dieser Norman Bates in Wirklichkeit schon vor langer Zeit seine Mutter aus Eifersucht auf einen ihrer Liebhaber ermordet hatte. Seither glaubte Bates, ihre Stimme im Kopf zu hören. Sie befahl ihm, alle Frauen in seiner Nähe umzubringen. Mit der Besetzung des jungen Anthony Perkins veränderte Hitchcock die Figur des geisteskranken Sohns vom fettleibigen älteren Säufertypen des Buchs in einen schlaksigen jungen Mann. Irrsinn flackert im Blick dieses Norman auf, wenn er in seiner schimmeligen Rezeption aufschaut. Perkins gibt ihn unscheinbar und nur subtil bedrohlich, wie er da gedankenversunken und Kürbiskerne kauend seine ausgestopften Vogelfiguren streichelt – und im Keller des Geisterhauses auf dem Hügel die Leiche seiner ermordeten Mutter hortet.
Für diese Frau Mama hatte der clevere Regisseur am Set auch immer einen Stuhl mit dem Schild „Mrs. Bates“ aufgestellt. Neugierige Journalisten rätselten krampfhaft, wer wohl von den alternden weiblichen Filmstars die Rolle von Normans Mutter übernommen hatte. „Hitch“ selbst pflegte die Spekulationen mit Spaß zu befeuern. In einem fast komödiantisch aufgemachten Vorfilm gefiel sich der Mann mit dem markanten Doppelkinn zudem, die potentiellen Zuschauer von „Psycho“ an die verschiedenen Drehorte zu führen. In seiner typisch langsamen Sprechweise erläuterte das behäbige Schwergewicht mit sichtlichem Vergnügen, dass das doch ein ganz harmloses Motel sei und dort oben auf dem Hügel am Fenster offenbar die Mutter des Motelbesitzers herunterschaue. Teils Gänsehaut erzeugende, teils bieder heitere Komödienmusik erklingt. Der große Meister ist in seinem Element.
Zwischendurch schiebt er einmal etwas wie Mitleid mit dem Sohn des Hauses ein: Wie solle sich ein Junge auch gesund entwickeln, wenn er von einer herrischen Mutter über Jahre herumkommandiert worden sei? Norman Bates sagt es im Film selbst flackenden Blicks ein wenig anders: Die größte Liebe eines Mannes sei seine Mutter. Was dem Publikum eisige Schauer über den Rücken jagt. Im Gästezimmer Nr. 1 klappt Hitchcock im Vorfilm sogar die Toilette auf. Er hatte sich im fertigen Film erlaubt, zu zeigen, dass deren Spülung betätigt wird – ein absoluter Tabubruch im damaligen prüden US-Kino. Den das englische Schlitzohr aber grinsend damit zu begründen pflegte, dass seine Hauptfigur in der Toilette Beweismittel zu vernichten versucht. Die Toilette spielte also eine wichtige Rolle. Vorsichtig schiebt der Regisseur im Vorfilm auch den milchigen Vorhang der Dusche zur Seite, um sich dann doch grausend abzuwenden. „Sie sollten das Blut sehen, das hier floss“, murmelt der gewichtige Herr bedeutungsschwanger.
„Pünktlich kommen … nichts verraten!“, hieß es also ab dem 16. Juni 1960 in den US-Ankündigungen des Kassenschlagers und ab dem 7. Oktober 1960 auch in deutschen Kinos. Es sei notwendig, dass sich die Leute diesen Film von Anfang an anschauten, ließ Hitchcock verbreiten. Die Manager der Kinos seien unter Bedrohung ihres Lebens angewiesen, nach dem Filmstart niemandem mehr das Betreten des Theaters zu gestatten. „Unberechtigte Versuche, durch Seitentüren, Feuerschutztüren oder Lüftungsschächte einzudringen, werden mit Gewalt beantwortet“, wurde in typischer Hitchcock-Manier ausgehängt. Der Sinn dieser außergewöhnlichen Richtlinien sei es natürlich, dem Zuschauer zu helfen, mehr Gefallen an „Psycho“ zu finden. Zumal der vom Publikum in jedem seiner Filme schon sehnlichst erwartete Moment, in dem der Meister selbst kurz durchs Bild geisterte, in „Psycho“ schon ganz am Anfang lief. Und eben nach einer halben Filmstunde die blonde Vivien Leigh in die Dusche stieg.
Oder war es eher Marli Rentro, ein unbekümmertes Nacktmodell aus Dallas, das sich während der siebentägigen Drehtortur für die schließlich gerade mal dreiminütige Schlüsselszene unter den warmen Wasserstrahl stellte? Vivien Leigh hat zwar noch Jahre nach der Erfolgsproduktion beteuert: „Es fühlte sich an, als ob das Messer auf mich einstach. Es war so realistisch, so fürchterlich. Ich konnte es wirklich spüren.“ Nach dem Dreh dieser Szene habe sie lange nicht mehr ohne Furcht eine Duschkabine betreten. Recherchen von Journalisten ergaben aber in den letzten Jahren, dass das Brotmesser im weißgekachelten Badezimmer viel mehr auf das um einige Jahre jüngere Go-go-Girl hinunterstach. Das typisch schmatzende Geräusch erzeugte die Crew, indem sie Wassermelonen malträtierte. Als bestaussehendes Schwarz-Weiß-Blut gurgelte sämiger Schokoladensirup der Marke Bosco in den Abfluss.
Leigh hatte gefürchtet, ihre Brüste seien zu schwer für die Aufnahmen und sich aus Sorge vor der Filmzensur fleischfarbene Badeanzüge auf den Körper schneidern lassen. So brachte der unzufriedene Regisseur kurzerhand ein Körperdouble zum Einsatz: für knappe 500 Dollar. Marli Rentro sollte im Jahr der Filmpremiere aber sofort auf dem Titel von Hugh Hefners Zeitschrift „Playboy“ landen und sich danach ihr Einkommen als „Bunny“-Hase im Männerclub des Millionärs und als Nackttänzerin in Las Vegas sichern können. Beim Dreh zu „Psycho“ hatte auch sie eine Vertraulichkeitsklausel unterzeichnet. Erst Jahrzehnte danach sollte die ehemalige Stripperin zugeben: „Jedes Stück Film, das nicht Janets Gesicht zeigt, zeigt mich - Hände, Füße, Beine, Rücken, Bauchnabel und auch den Hinterkopf.“ Dabei hatte sie 1988 sogar das Glück, für ihren Einsatz in der Duschkabine nicht noch wirklich ermordet zu werden. Ein obsessiver „Psycho“-Fan hatte sich nämlich auf die Suche nach dem Nacktdouble gemacht – aber dann die falsche Frau vergewaltigt und erdrosselt.
Gerade die legendäre Duschszene ist also bis heute vielen Menschen unvergessen. Nachfolgefilme schlossen sich an: von 1983 bis 1990 „Psycho“ II, III und IV erneut mit Anthony Perkins. In den letzten Jahren konnte endlich auch das krasse ungekürzte Original der Duschszene gezeigt werden. In weiteren Filmen und Musikstücken gab es unzählige Hommagen. Aber kein Produkt kam mehr heran an die Kunst des Films von 1960. Der in seiner Schlüsselszene die gekrümmten Finger einer jungen Frau in einer Dusche zeigte, wie sie langsam über eine weiße Kachelwand herunterrutschten.
Der Artikel erschien am 13. Juni 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Stadtschreiber. Oder der Blick von außen
Seit 1974 werden in Deutschland die Ämter von modernen Stadtschreibern ausgeschrieben. Wie auch aktuell trotz Corona-Krise wieder in Bonn
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Wer der erste Stadtschreiber Deutschlands war? Der bekannte Schriftsteller Wolfgang Koeppen. Das heißt, als der mit dem Roman „Tauben im Gras“ bekannt gewordene Autor am 30. August 1974 das Literaturstipendium dieses frisch geschaffenen Amtes im hessischen Bergen-Enkheim entgegennahm, sollte er nicht zum Kopieren von Verwaltungsakten verpflichtet werden. Das war Jahrhunderte früher von Stadtschreibern erwartet worden. Das neue symbolische Amt sollte talentierten Schriftstellern ermöglichen, ein Jahr lang ohne materielle Not schreiben zu können: und zwar in einer kostenfreien Wohnung vor Ort und mit monatlich 1.500 DM. Dafür hatte der Enkheimer Bürger Franz Joseph Schneider, selbst Autor der berühmten „Gruppe 47“, gesorgt. Koeppens prekäre finanzielle Situation war in Künstlerkreisen bekannt.
Gleichzeitig sollte das neue Amt aber 1974 auch verhindern, dass die Kleinstadt nach der kurz darauffolgenden Eingemeindung nach Frankfurt in der Anonymität versank. Und auch die Stadt Frankfurt selbst konnte hohe Erwartungen an das Amt knüpfen. Kam doch so Jahr für Jahr die Crème de la Crème deutscher Schriftsteller an den Main: von Peter Härtling über Jurek Becker, Günter Kunert, Ulla Hahn und Katja Lange-Müller bis zur Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller. Heute wird das renommierteste deutsche Stadtschreiberamt von einer Kulturgesellschaft und der städtischen Wirtschaftsförderung Frankfurts mit 20.000 Euro Preisgeld ausgestattet. Großstadt-Leseauftritte sind garantiert. Selbst der Bonner Thomas Melle erklärte nach 2018, er habe im Enkheimer Stadtschreiberhaus nahe den Streuobstwiesen Zeit gefunden, sich selbst zu spüren. Offensichtlich bietet das Projekt eine Win-win-Situation für alle.
Die streben seit 1974 auch zahlreiche andere Städte an. Ganzjährige bis mehrmonatige Stipendien werden inzwischen u.a. in Mainz, Dresden, Erfurt, Halle Stuttgart, Tübingen und seit 2018 auch in Bonn geboten. Wobei sich das Verhältnis der jeweiligen Stadtschreiber zu ihren Gaststädten, das heißt die Erwartungshaltung von Literaten und Geldgebern, nicht immer nur stimmig entwickelt. Deutschlands erster Stadtschreiber Wolfgang Koeppen etwa, ein notorischer Eigenbrötler, ließ sich im August 1974 nur mürrisch auf der Vorstellungsfeier blicken. Während sein Laudator, Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki, den Saal huldvoll grüßte, murrte Koeppen, er wolle nicht „wie ein schlechter Schauspieler angestarrt“ werden. Haben sich die Bergen-Enkheimer da nicht einen Eulenspiegel ins Haus geholt, folgerte die Presse. Mit der Folge, dass Koeppen, der selbst erklärte „Stadtnarr“, über Wochen verschwand und erst im Nachhinein versöhnliche Worte fand: Der Preis von Bergen-Enkheim werde nicht von einer Institution verliehen: „Es geben ihn Menschen.“
Das trifft seit 1985 auf den zweiten sehr bekannten deutschen Stadtschreiberposten, den in Mainz, eher indirekt zu. Die Sender ZDF und 3sat sowie die Landeshauptstadt selbst dotieren ihn mit 12.500 Euro und gewähren Wohnrecht sowie die Produktion einer TV-Dokumentation – ein attraktives Angebot, das prominente Autoren wie Gabriele Wohmann, Günter Kunert, Ilija Trojanow, Josef Haslinger und derzeit Eugen Ruge schon genutzt haben. Etwa bei der Einsetzung von Eva Menasse („Vienna“) 2019 formulierte das ZDF seinen Anspruch auch ganz klar: „Mit zunehmender Radikalisierung und dem Vormarsch eindimensionalen Denkens brauchen wir eine politisch engagierte Stadtschreiberin.“ Sich öffentlich einmischen? Das erfüllte Menasse bekanntlich mit Herzblut.
Fühlbar „von Menschen vergeben“ wird das Stadtschreiberamt auf jeden Fall von kleineren Städten. In Bonn etwa hat Kulturdezernentin Birgit Schneider-Bönninger zwar die Schirmherrschaft über das 2018 gestartete Projekt übernommen. Angeschoben haben es aber Bürger im Verein LeseKultur Godesberg. Dank des jährlich verliehenen Ferdinande-Boxberger-Preises kann der Verein ab September erneut insgesamt 7.500 Euro für drei Monate ausschütten. „Unsere Stadtschreiber sollen vor Ort bei kostenfreier Unterbringung ohne finanziellen Druck an neuen Texten arbeiten können“, sagt Initiatorin Barbara Ter-Nedden. Im Kampf gegen das Coronavirus sei der Kulturbetrieb leider zum Stillstand gekommen. „Doch gerade Schriftsteller müssen in Zeiten der Pandemie unterstützt werden“, schließt sie an die Ziele des legendären Preises von Bergen-Enkheim an.
Thomas de Padova (“Nonna“), den letztjährigen Bonner Stadtschreiber, freut das. „Dass die Stadtschreiberschaft in Bonn auch in dieser für Buchhandlungen und Autoren schwierigen Zeit fortgesetzt werden kann, ist ein ermutigendes Zeichen“, meldet er sich aus Berlin. Er hat sich in seiner Amtszeit viel am Rhein, in Ausstellungen, bei Lesungen und in Schulen „herumgetrieben“ und am kommenden Renaissance-Buch gearbeitet. Das Amt sei ein Zeichen dafür, dass Literatur ein wichtiger Bestandteil des Lebens in einer Stadt sei, ergänzt Ter-Nedden. Zudem betrachte der Stadtschreiber seine „Gastgeberin“ mit dem unverstellten Blick von außen, führt die Buchhändlerin aus. „Für die kulturelle Weiterentwicklung einer Stadt ist es doch wichtig zu wissen, was Außenstehende von ihr denken.“
Was auch Bonns erste Stadtschreiber Julia von Lucadou („Die Hochhausspringerin“) unterstreicht. 2018 sei sie „aktiver Teil dieser Stadt, eine Ameise im Ameisengewimmel, eine spazierende Figur am Rheinufer, eine Besucherin, eine Vorlesende, eine Gesprächspartnerin“ gewesen. Sie selbst habe hier viel Inspiration erhalten. Bad Godesberg werde im nächsten Roman eine Rolle spielen. „Ich fand es einen faszinierenden, historisch und gesellschaftlich spannenden Ort“, sagt von Lucadou. Das Stipendium sei „ein Segen“ gewesen. Es habe ihr „einen Ankerpunkt“ gegeben. Einen Ort, an dem sie ganz in ihren neuen Roman eintauchen konnte. „Ich denke oft zurück an meine Spaziergänge am Rheinufer, bei denen meine Gedanken an Assoziationsketten entlang hüpften, und danach meine Schreibklausur im hellen Wintergarten der Stadtschreiberwohnung, wo der Text und die Figuren jeden Tag ein Stück weiter wuchsen und Gestalt annahmen.“
Der Artikel erschien am 6. Juni 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal.
Foto: Bonner Stadtschreiber Thomas de Padova (Ebba Hagenberg-Miliu)
Genitalbeschneidung: Verstümmelung von Körper und Seele
Ein Fluch für 200 Millionen Frauen: Die Bonner Regisseurin Beryl Magoko hat einen ergreifenden Dokumentarfilm über ihre eigene Genitalbeschneidung gedreht
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Die entscheidende Aussprache mit ihrer Mutter gelingt Beryl Magoko erst am letzten Tag ihres Familienbesuchs. Die Mittdreißigerin ist für ihren Dokumentarfilm „In Search“ in ihrem kenianischen Heimatdorf auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit gegangen. Das Gespräch mit der Mutter über das beider Leben bestimmende Tabuthema Beschneidung führt die Tochter aber erst vor der Abreise. Und zwar beim gemeinsamen Erbsenauslesen. Ob sie denn wisse, dass es Frauen gebe, die Jahrzehnte nach ihrer Beschneidung mit einer Operation ihr Geschlecht zurückbekommen, fragt die Tochter die Mutter plötzlich. Sofort blickt die Ältere auf. Um die beiden Frauen, die eine Mahlzeit vorbereiten, hupfen in dieser Schlüsselszene gackernde Hühner.
„Auch ich habe diese Operation machen lassen“, schiebt die Tochter hinterher und versucht den Blick der Mutter zu fangen. Die reagiert besorgt. Ob sie noch Schmerzen habe, fragt sie nach. Nein, nein. Die Tochter schüttelt den Kopf. „Whow“, entfährt es der Älteren, und sie lacht verlegen, um sich wieder über die Schüssel zu beugen. Schweigen. Und dann beginnt die Mutter vorsichtig, anatomische Details zu erfragen. „Sie haben mir damals nur das hervorstehende Geschlechtsteil abgeschnitten, aber der größte Teil ist ja innen“, erklärt die Tochter den brutalen Eingriff vor 24 Jahren. Und sie versucht, die Neuformung der Klitoris zu beschreiben: Aus dem inneren Teil hätten die Ärzte ein Stück nach außen geholt und die Narben entfernt, So werde sie in Zukunft keine chronischen Schmerzen mehr haben.
Die Mutter sortiert weiter Hülsenfrüchte in die Schüssel. „Das ist gut“, sagt sie nachdenklich. Schweigen. Ob sie denn mit dieser Operation Schande über die Familie gebracht habe, hakt die Tochter nach. Nein, nein, antwortet die Ältere sofort. „Du hast getan, was dein Herz wollte.“ Die Nachricht erschrecke sie natürlich, fügt die Mutter hinzu. Aber sie hoffe, dass es in Zukunft ohnehin normal sei, dass Frauen nicht mehr beschnitten werden. „Ich will das für meine Enkelinnen nicht“, sagt die Mutter und blickt endlich auf.
Es ist harter Stoff, den die Bonner Regisseurin Beryl Magoko in ihrem Filmerstling mit ihrer Kamerafrau Jule Katinka Cramer bietet. Das Projekt von 2018 hat neben dem Großen Kunstpreis an der Kunsthochschule für Medien Köln auch schon den „Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstler“ und daraufhin ein gutes Dutzend weitere auch internationale Auszeichnungen erhalten. Im Februar 2020 ist der Film kurz vor der Corona-Krise in die deutschen Kinos gekommen. Mit Mitte 30 versetzt sich Magoko darin plötzlich wieder in die naive 11-Jährige zurück, die sich einst im kenianischen Dorf den Wahnsinnsschmerzen einer stümperhaften Genitalverstümmelung aussetzte und seither darunter leidet.
„Ich hasste seither jeden Tag, was sie getan haben. Und ich hasste jeden Tag, was ich getan habe“, nämlich sich dem Ritual nicht zu widersetzen, seufzt Magoko in einer Szene. Dazu sei sie über zwanzig Jahre lang wütend auf ihre Mutter gewesen, weil die sie nicht geschützt habe, als die Tanten mit Scheren auf sie losgingen. Das Ganze ist also auch eine Familientragödie. Und die Regisseurin, die seit fünf Jahren in Bonn lebt und sich hier verheiratet hat, benennt auch klar die Motivation, warum sie den Drahtseilakt einer autobiografischen Sicht auf das Tabuthema gewagt hat. Schicksalsgefährtinnen haben sie gebeten: „Bitte kämpfe für uns!“ Denn das Thema ist nach wie vor aktuell. Generationen von Frauen waren und sind im westlichen und nordöstlichen Afrika sowie im Jemen, Irak, in Indonesien und Malaysia bis heute aufgrund kultureller Traditionen der Grausamkeit einer Genitalverstümmelung ausgesetzt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass weltweit 200 Millionen beschnittene Mädchen und Frauen leben.
Jede Dritte stirbt an den Folgen, verblutet, bekommt Fisteln oder überlebt die Geburt eines Kindes nicht. Verstümmelung ist Teil eines Übergangsrituals vom Mädchen zur Frau, vielerorts ein Gradmesser für den Wert auf dem Heiratsmarkt, eine Absicherung für die Eltern. Meist seien die Mädchen jünger als 15 Jahre, wenn ihnen mit einem unsterilisierten Messer oder einer Glasscherbe der Genitalbereich abgeschnitten werde, erläutert die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW). Eine Betäubung bekämen die meisten nicht. Laut dem Bundesgesundheitsministerium sind sogar in Deutschland lebende Mädchen und Frauen mit Herkunft aus entsprechenden Ländern dem Risiko ausgesetzt, heimlich hierzulande oder im Ausland an ihren Genitalien verstümmelt zu werden. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes ging im Oktober 2019 von 70 000 betroffenen Frauen in Deutschland aus.
Ein Blick in die gar nicht so ferne Medizingeschichte Europas und Nordamerikas zeigt übrigens ebenso Erschreckendes: Auch hierzulande wurde die weibliche Beschneidung besonders im 19. Jahrhundert und sogar bis in die 1940er Jahre ganz selbstverständlich durchgeführt: angeblich zur Bekämpfung von „weiblichen Leiden“ wie Hysterie, Nervosität, „Nymphomanie“ und Masturbation, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags 2018 zur inländischen „Genitalbeschneidung von Mädchen und Frauen“ belegte. Man sei damals davon ausgegangen, dass das weibliche Sexualempfinden grundsätzlich geringer sei als das des Mannes. Zeigte eine Frau ein von dieser Auffassung abweichendes Verhalten, galt dies als krankhafte Nymphomanie und somit als behandlungswürdig. „Die letztmals bekanntgewordene Klitoridektomie in den USA gab es 1953 bei einem zwölfjährigen Mädchen“, verzeichnet die Schrift.
Seit 2013 wird die Genitalverstümmlung in Deutschland als eigener Straftatbestand eingestuft und kann mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren geahndet werden. Sie stelle eine Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit mit schlimmsten körperlichen und seelischen Folgen dar, so das Ministerium. Keine kulturelle oder religiöse Tradition könne dies rechtfertigen. Mediziner weisen nach, dass chronische Menstruationsbeschwerden, Komplikationen des Narbengewebes und Risikoschwangerschaften, Ängste und Depressionen, Frigidität und Partnerschaftsprobleme häufige Folgen sind.
In einer Filmszene krümmt sich auch Beryl Magoko in immer wiederkehrenden Schmerzkoliken. Eine andere beschnittene Frau berichtet ihr von Gewebeentzündungen, die sie auch Jahrzehnte nach der Verstümmelung schwer belasten. „Ich habe mein Geschlechtsteil verloren und eine Behinderung davongetragen“, klagt sie. Eine Dritte verrät, wie minderwertig sie sich auch in ihrer Ehe empfinde, dass sie keine Lust spüren könne, und wie das die Beziehung beeinträchtige. Die Hauptdarstellerin im Film trifft diese Frau in der kenianischen Klinik, wo sich beide für eine chirurgische Rekonstruktion des Geschlechtsorgans entscheiden. Ein US-amerikanisches Ärzteteam ist angereist. „Ich will meine Würde zurückhaben“, wird die Bettnachbarin nach der Operation im Film seufzen.
Denn die Medizin hat inzwischen Verfahren entwickelt, die Frauen wie Beryl Magoko im Nachhinein helfen. Heute können Klitoris und Schamlippen rekonstruiert werden. Genau von diesen Eingriffen, die keineswegs kosmetische Korrekturen oder Schönheits-Operationen darstellen, hatte Magoko im Film ihrer erschrockenen Mutter beim Erbsenlesen berichtet. Und eineinhalb spannende Filmstunden lang ist sie auf dem Weg genau dahin - und letztlich auf der Suche nach sich selbst. Es berührt ungemein, wie sie sorgenvoll abwägt, welche Möglichkeiten ihr laut ärztlicher Diagnose 24 Jahre nach der brutalen Beschneidung bleiben.
Entweder Magoko halte die monatlichen Krämpfe weiter aus oder sie lasse sich operieren, hatte sie im Film ein Arzt nach der Erstdiagnose vor die Wahl gestellt. Ihre Beschneidung vor zwei Jahrzehnten habe sogar zum von der WHO so erklärten zerstörerischen Eingriff des Typus 2 gehört, hat die entsetzte Magoko erfahren. Die Tanten im Dorf hatten also ganze Arbeit geleistet. „Ich verfluche die Verstümmelung“, presst Magoko zwischen den Lippen hervor. Sie ängstige sich aber auch, dass jemand sie „da unten“ wieder mit scharfen Gegenständen berühre. „Das ist unvorstellbar“, hämmert es in ihrem Hirn. Sie fürchtet das erneute Gefühl, jemand nehme ihr wieder ihr Herz weg. „Aber schweigen, ich kann es nicht.“ Magoko ist gereift. Nach einem Filmstudium in Kenia kam sie nach Deutschland und machte auch hier den Studienabschluss.
Eine ebenso Betroffene spricht ihr im Film zu. „Wenn du dich wirklich befreien willst, kannst du die Erinnerung nicht wegtun“, erklärt ihr die ebenfalls beschnittene Frau. Sie müsse endlich lernen, das traumatische Erlebnis loszulassen. „Du hast noch keine Tür gefunden, wo du `raus kannst. Das geht nur, wenn du deine eigene Geschichte aufarbeitest.“ Und dann fügt diese Frau hinzu: „Das ist unser Monster, das wir töten müssen." Eine andere Leidensgenossin hilft Magoko analytisch, das Leid zu begreifen. Letztlich gäben auch bei der Beschneidung von Mädchen Männer den Takt an, sagt sie, „weil sie die zukünftige Frau in uns dominieren wollen.“ Deshalb dürfe nur die Frau entscheiden, ob sie eine Operation riskiere. Außerdem müsse Magoko ihren Frieden mit der Mutter machen. „Du musst nach Kenia fahren.“
Was die Hauptdarstellerin befolgt. Schließlich schafft sie die Aussprache. „Warum hast Du, als ich Kind war, nicht gesagt: Geh nicht zur Beschneidung. Du warst still“, wirft sie der Älteren vor. Gequält schaut die Mutter in die Erbsenschüssel. Die Familie habe Druck gemacht, dass auch diese Tochter verstümmelt werden musste, meint sie dann leise. Damals habe der Staat das Ritual noch nicht verboten. „Früher wurden Frauen schlecht behandelt. Eine Frau hatte nichts zu sagen," erläutert die Mutter. „Leute haben beschnitten, weil es andere schon taten, als sie aufgewachsen sind." So sei das dann auch ihren vier Töchtern widerfahren.
Und plötzlich, als die beiden den Erbsentopf zum Kochen bringen, spricht die Mutter erstmals von der eigenen Beschneidung, die noch tragischer war. Man habe ihr sogar noch „das Ding `rausgezogen“, um noch mehr als die äußeren Teile des Geschlechtsorgans zu entfernen, schildert die Ältere eindringlich. Die Klage über die unsäglichen Schmerzen und die Erniedrigung spiegeln sich in ihrem gequälten Gesicht. „Bis ins Gehirn“ habe sich die Gewaltanwendung gefräst, kommt über die Lippen der älteren Frau, so dass selbst die Tochter nicht mehr weiter zuhören kann und die Szene abbricht.
Magoko hat ihren Film inzwischen auch international an vielen Ort gezeigt, mit Erfolg auch in ihrer kenianischen Heimat. Es flössen Tränen, und immer werde danach heftig diskutiert, berichtet sie. Magoko erreicht besonders die Leidensgenossinnen, denen sie ihren Schmerz mildert und einen Weg aus dem Trauma aufzeigt. „Mir haben sogar Männer beteuert, dass ihnen nun die Augen geöffnet wurden“, erzählt die Filmemacherin. Die Beschneidung wehrloser Mädchen sei dazu ein politisches Thema, weil es letztlich um die Achtung und die Rechte der Frau gehe. Gerade hier will Magoko weiter aktiv sein und ihren Film überarbeiten, damit auch Frauen, die nicht lesen können, nicht auf Untertitel angewiesen sind. Dafür sammelt sie Spenden. Sie plant Workshops und hofft auf eine Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO).
„Ja, es hat sich eine Menge in meinem Leben geändert“, nickt die Filmemacherin. Sie fühle, dass sich eine schwere Last von ihren Schultern gelöst habe. Sie sei als Mädchen durch die Beschneidung stumm gemacht worden. „Jetzt habe ich eine Stimme. Ich habe Selbstbewusstsein. Ich habe den Mut, über Genitalverstümmelung zu sprechen, denn ich bin eine Überlebende.“ Durch die Filmarbeit habe sie erfahren, dass sie in ihrem Kampf für die Rechte der Frau nicht allein ist. „Es gibt noch viel zu tun. Da sind noch 200 Millionen Frauen, die leiden und schweigen.“
Beryl Magoko hat ihren Film „In Search“ ihrer Mutter gewidmet. Nach der Corona-Krise will der Soroptimist International Club ihn in Bonn zeigen.
Kontakt und Foto: https://insearch.magoko.net/
Der Artikel erschien am 6. Juni 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal.
Vom Bonner Lehrstuhl auf die Guillotine
Ein Winzersohn vom Main schaffte Ende des 18. Jahrhunderts eine atemberaubende Karriere – und einen jähen Absturz in den Wirren der Französischen Revolution
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Eulogius Schneider war wohl der schillerndste und umstrittenste Literaturprofessor, der je an der Universität Bonn gelehrt hat. 1789 war dieser Priester aus Württemberg 32-jährig von Kurfürst Max Franz auf den Bonner Lehrstuhl für Literatur und Schöne Künste berufen worden. Als untersetzt, kräftig, mit einem vollen, einnehmenden Gesicht und schwarzem Haar beschrieben ihn die Zeitgenossen. „Der Neue“ war zweifellos in Philosophie, Theologie und Literatur eine Kapazität. Zudem schildern ihn Zeitgenossen als äußerst eloquent, als mit Scharfsinn und unerschöpflichem Witz ausgestattet. „Es fehlt ihm nie an Stoff, Freunde zu unterhalten. Er hat vorzügliche Talente zum Dichter, Redner und Philosophen“, erinnerte sich ein Beobachter.
Doch dem charmanten Herrn Professor lief ein gewisser Ruf voraus: Pater Eulogius, der 1756 als Johann Georg Schneider in einem Kaff am Main geboren worden war, hatte kurz vor seiner Berufung nach Bonn den Franziskanerorden verlassen. Auch seine schöne Stelle als katholischer Hofprediger beim württembergischen Herzog Carl Eugen hatte er gerade verloren. Dort war er schon nach kurzer Zeit in Konflikt mit dem Regenten geraten. Denn der Winzersohn begeisterte sich für die Ideen der Aufklärung. „Folgt der Wahrheit, nicht den Autoritäten“, hatte er 1786 in einer philosophischen Schrift glasklar gefordert.
Auch auf der vorherigen Stelle eines Lektors für „Philosophie und geistliche Beredsamkeit“ beim Franziskanerkonvent in Augsburg war der Feuerkopf 1785 angeeckt. Und zwar mit einer Predigt über christliche Toleranz. „Ist es wirklich so, dass alle Nichtkatholiken verdammt werden? Sind sie alle Feinde Gottes?“ hatte der Pater da provokativ von der Kanzel gefragt. Die Vertreter des Ordens und der Kircheninstanzen glaubten, sich verhört zu haben. Doch der Jesuitenschüler legte noch einmal nach – und ließ die skandalträchtige Predigt drucken. Ab da war sie überregional schwarz auf weiß nachzulesen: Dieser kleine Pater forderte doch wirklich, generell jeder Gläubige, ob nun Katholik, Protestant oder „vom Orient und vom Occident“ kommend, möge sich als von einem liebenden Gott als Mensch angenommen betrachten. Sollten alle doch möglichst „füreinander bethen und einander im Kusse des Friedens umarmen.“
Der Bonner Lokalhistoriker Norbert Flörken hat kürzlich in seiner Reihe „Bonner Gelehrte“ einen hochinteressanten Band mit Originaltexten von und über diesen Eulogius Schneider herausgegeben. Er enthält auch dessen Toleranzpredigt sowie diverse Reaktionen der Zeit. Und die zeigen: Schneider hatte auf jeden Fall seine Fans, die genau seine Botschaft als kraftvoll und „bey allen Vernünftigdenkenden beliebt“ werteten. Er könne Eulogius nur „als einen muthigen und menschenfreundlichen Mann schildern“, lobte ihn etwa der Zeitzeuge und Schriftsteller Friedrich Nicolai, während die von der Kirche bestellten Zensoren die Predigt als theologisch falsch, erbärmlich, ja anstößig verrissen. Dieser Mönch nehme sich wahrlich zu viel Freiheit heraus und predige eine Vernunftreligion, ja die Anarchie, hieß es.
Und da hatten die Kommentatoren noch nicht einmal alle Register gezogen. Während des ersten Anlaufs, Priester zu werden, hatte sich Schneider 1775 nämlich in einer Liebesaffäre schon einmal ein Strafgeld wegen „vorehelicher Corpulation“ eingehandelt. Dass die Eltern ihr elftes Kind in den geistlichen Beruf drängten, tat dem lebenslustigen Jungen offenbar nicht gut. Den Ruf an die Bonner Universität sehe er als eine Rettung an, schrieb Schneider wenigstens selbst 1788 an einen Freund. „Ich redete stets, was ich dachte, und sah mit hoher Verachtung auf die Künste des Höflings herab“, gab er da hellsichtig zu. „Dies fühlte der Höfling und schwur mir den Tod“. Erste Anflüge seines wohl pathologischen Rigorismus, so Herausgeber Flörken, deuteten sich schon an. Wie gut, dass ihm 1789 „am Ufer des Rhenus“ eine neue Stelle winkte.
Auf der schuf sich der begnadete Rhetoriker aber umgehend neue Feinde, und er forderte erneut die Obrigkeit heraus. Einerseits saßen zahlreiche begeisterte Zuhörer in seinen brillanten Vorlesungen, darunter auch der junge Ludwig van Beethoven, der des Priesters Argumentation von Toleranz mithörte. Schneiders Veröffentlichungen über weltliche Themen rissen die Kritiker zu Begeisterungstürmen hin. „Ein wahres Meisterstück der männlichen kernhaften Beredsamkeit“ sei seine Trauerrede auf Kaiser Joseph II. von 1790. „Da wird nicht mit Worten getändelt, nicht mit Blümchen gehaschet, nicht mit steifen Phrasen“ großgetan, lobte man seinen Stil. Doch sobald sich der neue Professor theologisch äußerte, meldeten das Neider sofort dem Kölner Erzbistum, das schließlich gegen Schneiders im Sinne der Aufklärung verfassten „Katechetischen Unterricht in den allgemeinsten Grundsätzen des praktischen Christentums“ erbitterten Protest einlegte.
Max Franz versuchte zwar noch, einen offenen Konflikt zu vermeiden, indem er das Entlassungsgesuch des päpstlichen Nuntius ablehnte und ein Verkaufsverbot des Textes aussprach. Er hatte dabei aber nicht mit der Widerborstigkeit seines Professors gerechnet. Denn der protestierte öffentlich dagegen. Die Art, wie sich „Eure Kurfürstliche Durchlaucht“ gegen ihn, Eulogius Schneider, geäußert habe, „zerstörte vollends das wechselseitige Zutrauen, welches zwischen dem Oberhaupte eines Staates und dessen öffentlichen Lehrern herrschen muss“, wagte sich Schneider zu schreiben. Das Tischtuch zwischen dem Dienstgeber und dem Angestellten war zerschnitten. Und zwar noch aus einem weiteren Grund.
Schneider hatte nämlich in seinen nur drei Bonner Jahren auch eine Sammlung eigener Gedichte herausgegeben. Und auf die hatte sich die Kritikermeute ebenfalls gestürzt. Die formale Qualität der Verse war nicht zu beanstanden. Aber der Inhalt peitschte seine Feinde auf. Der vom Papst inzwischen als „Weltpriester“ titulierte Schneider hatte doch wirklich über die Süße der Liebe zu Frauen, über verratene Küsse und errötende Wangen gereimt. Er selbst hatte im Vorwort offen zugegeben, dass er letztlich, seiner „Weihe ungeachtet, gerade so empfinde wie andere Adamssöhne“, dass er aber, und das betonte er, zwischen Liebe und sündhafter Ausschweifung einen entscheidenden Unterschied mache.
Schneider beschwor die „Wonne zärtlicher Freundschaft“ zu Frauen, sah selbst beim Anblick stillender Mütter erotische Reize, wo „reiner gesunder Saft aus Brüsten quelle“. Und er schrieb in einer „Ode an Babette: „Oh Mädchen! Welch ein Feuer begeistert dich. Wer mahlt den Ausdruck Deiner Augen? Wer die Bedeutung Deiner Lippen?“ Es spreche dann doch wenig dafür, dass mit dieser angehimmelten „Babette“ jene in der Beethoven-Rezeption bekannte Babette Koch aus dem Bonner Zehrgarten gemeint sei, die spätere Gräfin Belderbusch, vermutet hier Herausgeber Flörken. Obwohl genau diese junge Dame im Subskribentenverzeichnis der Gedichte sehr wohl als „Demoiselle Babet Koch“ verzeichnet steht, wie im Übrigen auch „Herr van Beethoven, Hofmusicus“. Das heißt: Das junge Bonn der Jahre, in denen der Komponist noch in seiner Geburtsstadt weilte, kaufte und las die Gedichte dieses charismatischen Literaturprofessors. Der Mann war auch als Dichter in Mode.
In den Augen der Kirchenoberen erschienen solche Verse aus der Feder eines Priesters jedoch skandalös. Das Urteil des vom Bistum beauftragten Buchzensors fiel jedenfalls niederschmetternd aus. „Die Moral der Liebe, wenn sie auch nur ein Gedicht ist, wird von dem größten Theil der Leser als gefährlich beurtheilt“, kritisierte der Professor für Kirchenrecht. So etwas gehöre nicht in ein katholisches Gedicht. Andere Schreiber gingen unter die Gürtellinie: „Du Götze der Geilheit. Du bist ein Priester? Du Abschaum der Venus, Du Schwein“, wurde Schneider auf Latein beschimpft.
Brandgefährlich war es für ihn auch wegen eines weiteren Themas geworden: Schneider sprach sich in seiner Lyrik für die Ziele der parallel im Nachbarland tobende Französische Revolution aus. „Gefallen ist des Despotismus Kette, beglücktes Volk, von Deiner Hand“, begeisterte sich der „Weltpriester“. Und er folgerte: „Ein freier Mann ist der Franzos`!“ Ludwig van Beethoven sog die Euphorie des radikalen Aufklärers für die Ideale der Französischen Revolution begierig auf. Sie sollte später Ausdruck in seiner Oper „Fidelio“ finden. Für Schneider gab es jedoch 1791 in Bonn keine Rettung. „O Bestie, o Missgeburt“ nannten seine Feinde ihn in Schmähschriften. Die Zensoren schrieben: Für die Jugend Bonns sei ein solcher Mann gefährlich. Durch ihn werde sowohl der Kirche als auch dem Staat geschadet. Kurfürst Max Franz verwies Schneider der Universität und des Landes. Mit 35 Jahren lag der ungestüme Prediger also wieder einmal auf der Straße. Und in ihm loderte sicher noch heftiger die Verachtung für alle Herrschenden und deren Speichellecker.
Logisch war dann, dass ein solch kompromissloser, aber auch selbstverliebter Mann ins revolutionäre Frankreich floh. In Deutschland sei er „überall von Despoten und Pfaffen verfolgt“ worden, diente sich Schneider mit kämpferischen Schriften den Jakobinern in Straßburg an. Die wiederum konnten über den Zuwachs frohlocken: Dieser scharfsinnige und theologisch beschlagene Mann zeigte sich schon im Sommer 1791 imstande, in der Schrift „Die Uebereinstimmungen des Evangeliums mit der neuen Staatsverfassung der Franken“ argumentativ stringent und mit hämmernder Rhetorik die Botschaft der Bibel für die jungen wilden Revolutionäre einzuspannen. Grundfeste sowohl der revolutionären Verfassung als auch des Evangeliums sei „die ursprüngliche Gleichheit der Menschen. Niemand wird als Herr, niemand als Knecht geboren“, schrieb Eulogius Schneider.
Der Priester, der mit dieser Botschaft an deutschen Adelshöfen und Universitäten an die Wand gefahren war, konnte sich jetzt in seinem Element fühlen. Hier konnte er, der seit vielen Jahren unter dem Zölibat litt, offen für die Priesterheirat eintreten und sich selbst mit einer jungen Elsässerin vermählen. Wie im Rausch steigerte sich Schneider in die Arbeit für die Revolution hinein. Ob er überhaupt noch mitbekam, dass französische Priester anonym in Gegenschriften seine „Irrthümer und Gefährlichkeiten“ anprangerten und ihm mit dem Jüngsten Gericht drohten?
Zunächst hatte Schneider eine Anstellung als Vikar am Straßburger Münster bekommen. Zeitweise lehrte er als Professor an der Universität. Als Jakobiner rückte er dann in den Stadtrat ein und radikalisierte sich weiter. 1792 forderte er die Hinrichtung Ludwigs XVI. 1793 wurde er Öffentlicher Ankläger am Revolutionsgericht für das Elsass – und sprach 31 Todesurteile für angebliche Republikfeinde aus. Der ehemalige Bonner Professor der Schönen Künste zog mit einer rollenden Guillotine durchs Land. Der einstige Kämpfer für eine Nationen und Religionen vereinende Toleranz war williges Glied eines Terrorregimes geworden. Als „Marat von Straßburg“ war Schneider zum Herrn über Leben und Tod geworden. Überall sah der einstige Verkünder der frohen Botschaft nur noch Gegner. „Tod den Verräthern und Feinden der Freiheit“ stand plötzlich am Ende seiner zahlreichen Schriften.
Aber auch den „Blutsäufer des Elsass“ ereilte das Schicksal. Obwohl er klar hinter den Zielen der Jakobiner stand, geriet der verhasste „hergelaufene deutsche Priester, dieser entkuttete Mönch“ unter Verdacht, als Agent des Auslands zu agieren. Die Pariser Regierung betrieb seinen Sturz. Ende 1793 wurde er auf dem Schafott in Straßburg dem Volk zur Schau gestellt, am 1. April1794 in Paris vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt und unter der Guillotine hingerichtet.
Die Revolution frisst ihre Kinder. Auch einen Jungen aus einer armen Winzerfamilie, der es mit Hilfe einer Priesterausbildung sogar auf einen Professorenstuhl in Bonn gebracht hatte, der dann aber schon kurze Zeit später in den Wirren der Französischen Revolution seine Seele verkaufte.
Im Handel erhältlich: Norbert Flörken (Hg.), Eulogius Schneider. Bonner Revolutionär. Predigten, Schriften, Dokumente, BonnBuchVerlag 2020, 24,80 Euro
Foto: Eulogius Schneider. Zeichner: Lohbauer, Stecher: Ketterlinus (1790). Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn
Der Artikel erschien am 30. Mai 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal.
Themenseite zur Öffnung von Kindertagesstätten
"Erst müssen also praktikable und gut durchdachte Öffnungslösungen her. Und dann ist es an der Zeit, endlich mehr in die für unsere Gesellschaft so wichtige Kita-Betreuung zu investieren. Wenn nicht jetzt, wann dann."
https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/stadt-bonn/auf-kante-genaeht_aid-51230745
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
Lebendig, ungeschminkt, offen: Brigitte Fassbaender
Brigitte Fassbaender hat Karriere als Star-Mezzosopranistin sowie Regisseurin und Intendantin gemacht. In ihren Memoiren blickt sie auf 80 Lebensjahre zurück
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Ihre Stimme war von Anfang an Brigitte Fassbaenders Kapital. Von der Münchener Staatsoper, damals das erste Opernhaus Deutschlands, war sie 1961 schon nach dem ersten Vorsingen vom Fleck weg engagiert worden. Da hatte die 21-Jährige gerade mal die Gesangsausbildung bei ihrem Vater, dem vormaligen Starbariton Willi Domgraf-Fassbaender, durchlaufen. In den Münchener Jahren sollte das 1939 in Berlin geborene Naturtalent seine Stimme weiter verfeinern und sich schließlich den Ruf erarbeiten, einen atemberaubend erdigen, empfindsamen und gleichzeitig ausdrucksstarken Mezzosopran auf die großen Bühnen der Welt bringen zu können. Wenn Fassbaender im Laufe ihrer Karriere etwa Gioacchino Rossinis berühmtes „Agnus Dei“ anstimmte, sei das „wie ein Klang jenseits des Grabes“ erschienen, schrieben die Feuilletons. Ihre Stimme habe leuchtend klar und traumhaft sicher selbst spektakuläre Höhen genommen. Und dann trat dieser Weltstar 1994 mit nur Mitte 50 unvermittelt von der Solobühne ab – und begann eine zweite Karriere als Regisseurin, Intendantin und Pädagogin.
Warum die wohl größte deutsche Mezzosopranistin der 1960er bis 1990er Jahre den konsequenten Schritt ging, hat sie jetzt als 80-Jährige in ihren Memoiren schlüssig erklärt. „Komm` aus dem Staunen nicht heraus“ ist das fast 400 Seiten umfassende, durchweg erfrischend nüchtern geschriebene Buch überschrieben. Und der Titel spiegelt nicht nur das Lebensgefühl dieser Vollblutmusikerin, die meist abseits vom Starrummel für ihre persönliche Freiheit zu kämpfen pflegte. Das Zitat im Buchtitel lässt auch Fassbaenders jahrzehntelange Octavio-Erfahrungen im „Rosenkavalier“ anklingen. Diese Hosenrolle in der Oper von Richard Strauss hat die Sängerin berühmt gemacht. Aus dem Staunen ist sie dann angesichts ihrer Karriere selbst kaum mehr herausgekommen. Andererseits hat sie aber auch die Schattenseiten jeder Künstlerkarriere erlebt: den permanenten Leistungsdruck, das ewige Lampenfieber, die anstrengenden Diäten, um in die Kostüme zu passen, und das Stalking von Fans, die Prominente bis nach Hause verfolgen. Das Buch beschreibt auch das ungeschminkt.
Warum Fassbaender dann mit 54 Jahren plötzlich zu singen aufhörte? Die menschliche Stimme, „die zu einem Instrument geformt wurde, ist ein höchstsensibler Apparat“, schreibt die Sängerin. Singen sei ein „Höchstleistungssport, für den man sich ständig fit halten, dem man Opfer bringen muss“. Erst einmal sei eine ausdauernde technische Schulung Voraussetzung, und dann auch eine strenge Disziplin. Die Stimme jederzeit auf höchstem Niveau einzusetzen, das sah „die Fassbaender“ drei Jahrzehnte lang als ihre unbedingte Pflicht an. Und als sie diese hohen Erwartungen an sich selbst nicht mehr erfüllen konnte, war sie bereit, rigoros den Schlussstrich zu ziehen. Fassbaender ist in ihren Memoiren ehrlich genug, die Krise zu benennen: Als das Klimakterium einsetzte, halfen weder Hormontherapie noch Psychologe. Einen alternden Star habe sie nicht geben wollen, sondern ihre Lebenskraft ins zweits Künstlerleben gesteckt: Sie wurde Regisseurin des Musiktheaters, arbeitete vier Jahre als Operndirektorin in Braunschweig, war zwölf Jahre Intendantin des Tiroler Landestheaters in Innsbruck, leitet diverse Musikfestivals und unterrichtet mit Leidenschaft die kommenden Stars.
Das Singen war ihr immer ein kompromissloses sich mit Haut und Haar der Kunst Aussetzen und damit eine Art Befreiung. Im Buch beschreibt Fassbaender überzeugend, welches Glück sie erfahre, dass sie dieses Lebensgefühl jetzt an andere weitergebe. Das letzte Drittel des Buches enthält denn auch Beispiele dieser Schaffenskraft: ihr vor 29 Jahren entstandenes Theatertagebuch einer Regiearbeit an der Benjamin Britten-Oper "A Midsummer Night's Dream“ und einen Blick in ihre eigene Theaterwerkstatt. All das sind Buchpassagen, die ein gefundenes Fressen besonders für am Inszenieren interessierte Leser bilden.
Als zeitgeschichtliches Zeugnis sprechen aber sicher die anderen zwei Drittel der Memoiren besonders an. Zum einen hat Fassbaender als Sechsjährige die Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945 im Bunker miterlebt. Die alptraumhaften Szenen haben sich ihre ebenso eingeprägt wie die Rache der russischen Besatzer an der Zivilbevölkerung und damit auch an der eigenen Mutter. Dass aber auch der Vater ins NS-Unrechtsystem verstrickt war, wird die heranwachsende Tochter erst später begreifen und sich dem nun als 80-Jährige im Rückblick stellen. Andererseits kann Fassbaender auch Interessantes über all die Stars der Opernszene der 1960er bis 1990er Jahre bieten, mit denen sie auf der Bühne stand. Sie schildert in ihrem offenen, aber letztlich auch diskreten Erzählton Erinnerungen an legendäre Sänger wie Fritz Wunderlich, Gundula Janowitz, Montserrat Caballé, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Lucia Popp oder Gwyneth Jones.
Thema ist auch der jeweilige Arbeitsstil der Dirigentenstars Claudio Abbado, Herbert von Karajan, Carlos Kleiber und vieler anderer. Fassbaender verschweigt aber auch nicht Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch hinter den Bühnen. Der aktuell in die Kritik geratene Tenor Placido Domingo sei da keineswegs der am zudringlichsten Belästigende gewesen. Dass Dirigent James Levine, „der ewig gut gelaunte Chef“ der Metropolitan Oper New York, „Affären mit minderjährigen Buben“ gehabt habe, habe jeder in der Szene gewusst, so Fassbaender. 2019 kam es wegen des Verwurfs sexuellen Missbrauchs zur Trennung der Met von Levine. Aber auch etwa über den verstorbenen Dirigentenstar Sir George Solti schreibt die Autorin: „Solti war der vielleicht größte Womanizer unter seinesgleichen, niemand aus der jüngeren Sängerinnengarde war vor ihm sicher.“
Brigitte Fassbaender wird nach der Corona-Krise in der Bad Godesberger Parkbuchhandlung aus ihrem Buch lesen. Der genaue Termin steht noch nicht fest.
Im Handel erhältlich: Brigitte Fassbaender, „Komm’ aus dem Staunen nicht heraus“. Memoiren. Beck, München 2019. 381 Seiten. 26,95 Euro
Erschienen am 9. Mai 2020 im General-Anzeiger Bonn, Journal
Foto: Verlag Beck
Emanzipation am Himmel. Erste Stewardess, erste Pilotinnen
Mit Ellen Church schaffte vor 90 Jahren die weltweit erste Stewardess den Sprung in eine Männerdomäne. Dabei hätte sie das Flugzeug sogar selbst fliegen können: Sie besaß den Pilotenschein
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Die dreimotorige Boeing 80 A steht startklar auf dem Flughafen von San Francisco. Mit dem metallisch glänzenden Gerät der „Boeing Air Transport“ (BAT), der Vorläufergesellschaft der United Airlines, soll es an diesem 15. Mai 1930 nach Chicago gehen. Elf Passagiere nähern sich der Maschine. Und da begrüßt sie beim Einstieg plötzlich eine junge Frau in grüngrauem Wollcape und Barret auf dem Kopf, versorgt sie nach dem Start mit Getränken und serviert ihnen den Hühnchen-Snack mit Fruchtsalat. Ellen Church heißt die weltweit erste Flugbegleiterin, die sich in den folgenden Stunden auch um alle jene kümmert, deren Nerven in den damals heftig schwankenden Maschinen zu flattern drohen. Eine Sensation, dass dafür an diesem Maitag 1930 neben den seit ein paar Jahren üblichen männlichen Stewards eine Frau beauftragt ist.
Ellen Church, Tochter einer Bauernfamilie aus Iowa, sollte in ihrer strengen Uniform an diesem Tag also Geschichte schreiben.Als „gut gebaut, Single, aus gutem Hause und mit tadellosem Charakter“ beschrieben die damaligen Medien die 25-Jährige nach der Landung in Chicago. Und genau diese Voraussetzungen hatten die jungen Damen zu erfüllen, die ihr bald auch bei anderen Fluggesellschaften als Flugbegleiterinnen folgen sollten. Genauer gesagt: „Die Neuen“ neben den bislang durchweg männlichen Stewards mussten möglichst jünger als 25 Jahre, weniger als 52 Kilo leicht und kleiner als 1,63 Meter sein, wenn sie Fluggäste lächelnd zu ihren Sitzen begleiten wollten. Das galt für die „Kabinenjungen“ ähnlich: Leicht und kleinwüchsig mussten auch sie in den damaligen engen Maschinen sein. Aber bei den weiblichen Neulingen kam in den ersten Jahren noch ein weiteres Wunschkriterium hinzu: Sie mussten eine Ausbildung als Krankenschwester nachweisen.
So hatte sich Ellen Church im Frühjahr 1930 überhaupt erst den Eintritt in die Gilde der Flugbegleiter verschafft und damit Frauen generell den Weg geebnet. Bei einem Einkaufsbummel hatte sie in einem Schaufenster die Werbung der BAT für künftige „Cabin Boys“ entdeckt. Church hatte sich schon erfolgreich gegen die Pläne der Familie gewehrt, früh zu heiraten und den elterlichen Hof zu bewirtschaften. Die selbstbewusste junge Frau hatte dagegen bald eine Ausbildung zur Krankenschwester in der Tasche – und einen Pilotenschein dazu. Denn zwischen ihren Schichten in der Klinik hatte sie erfolgreich Flugstunden absolviert. Als Kandidatin mit Privatpilotenlizenz stellte sich Church also beim Ansprechpartner der Fluggesellschaft vor. Doch Steve Stimpson, Betriebsleiter der BAT, lachte sie erst einmal aus: Eine Frau am Steuerknüppel im Cockpit? Was für ein Witz! Church schaltete geschickt um: „Glauben Sie nicht, dass es psychologisch gut wäre, Frauen in der Luft dabei zu haben?“, soll sie den überraschten Betriebsleiter gefragt haben. Wie wäre es, wenn sie ihren Beruf als Krankenschwester im Flugzeug ausüben und Passagieren helfen würde, die Flugangst zu überwinden?
Was sich als schlagendes Argument entpuppte. Denn im Vergleich zu heute besaßen die damals winzigen Verkehrsmaschinen noch keinen Druckausgleich. Bei Flughöhen um die 3000 Meter wurden die Passagiere von Turbulenzen kräftig durchgeschüttelt.Steve Stimpson fand die Idee der kecken jungen Frau überzeugend. „Wie könnte ein Mann dann sagen, dass er Angst vor dem Fliegen hat, wenn eine Frau im Flugzeug arbeitet?“, folgerte er. Zudem hoffte er auf den Werbeeffekt, wenn seine Fluggesellschaft mit hübschen jungen Frauen aufwarten konnte. Damit hatte sich Stimpson nicht verrechnet: Die Bilder attraktiver junger Frauen an der Seite von graumelierten Kapitänen vor schnittigen Flugzeugen sollten alsbald zum Aushängeschild jeder Airline gehören.Nach einer dreimonatigen Testphase wurde Ellen Church als erste Stewardess der Welt bei der BAT angestellt. Und weil sie sich als Organisationstalent entpuppte, war sie auch gleich damit beauftragt, weitere junge Damen für den Dienst an Bord zu rekrutieren.
So stellte sie ihrem Dienstherrn ein achtköpfiges Flugkrankenschwester-Team zusammen, das sich „The Original Eight“ nannte: die ursprünglichen Acht. Jede Einzelne sei sicher geduldiger, umsichtiger und sanftmütiger als männliche Stewards, jubilierten die Medien. Diese „Cabin Girls“ konnten auf 3000 Metern Höhe bestimmt mit den exzentrischsten Passagieren umgehen – vor allem mit jenen, die Flugangst quälte. Wobei die weitsichtige Church in ihrer Planung zu den hauptsächlich körperlichen Voraussetzungen auch flugs noch weitere Eignungskriterien hinzufügte: Ihre Kolleginnen hatten also nicht nur junge, ledige, schlanke Krankenschwestern zu sein, sondern auch eloquent, sprachbegabt und psychologisch geschult.
Das Modell der BAT schlug sofort ein. Aus dem Stand bildete auch die Konkurrenz weibliche Kabinenhostessen aus. Was an Bord übrigens nicht unbedingt auf Gegenliebe der Kollegen stieß. Die Kapitäne und Copiloten pflegten nicht ein einziges Wort mit den „Sky Girls“ zu wechseln, die ihnen laut Vorschrift mit militärischem Gruß Respekt zu erweisen hatten. Es soll anfangs sogar Beschwerdepost von Piloten-Ehefrauen gehagelt haben: Die attraktive weibliche Konkurrenz an Bord solle doch gefälligst verschwinden, um die so große Verantwortung tragenden Gatten am Steuerknüppel nicht zu verwirren, schrieben die Damen.Doch der Damm war gebrochen: Nach Ellen Church eroberten die Frauen zunehmend die Maschinen. Vier Jahre nach ihrem Premierenflug stellte erstmals auch in Europa eine Fluggesellschaft eine Frau ein: Die Swissair verpflichtete die 22-jährige Nelly Pflüger. Die soll in weißer Schürze ihren Dienst versehen und gelegentlich auch gejodelt haben, berichteten Medien.
Dabei hatten die jungen Frauen mit den gewünschten Wespentaillen gerade in den ersten Jahren der Passagierfliegerei noch ganz andere Aufgaben zu stemmen. Die betont bieder geschnittenen Uniformen der „Ursprünglichen Acht” hatten nämlich nicht zufällig voluminöse Taschen. Darin bewahrten die Damen große Schraubenschlüssel auf, um die Sitze der Passagiere vor dem Ab- und Anflug sowie bei besonderen Wünschen umzustellen. Die „Engel am Himmel“ mussten außerdem die Kabinen putzen und auch bei Wartungsvorbereitungen kräftig mit anpacken. An einen immer einwandfreien Sitz der Frisuren und des Make-ups war da gerade in den 1930er Jahren kaum zu denken. „Kabinenmädchen“ zu sein, war schon zu Zeiten der Ellen Church ein Knochenjob.
Dass Frauen wohl nur aus dem Grunde Stewardess würden, um im Cockpit ihren Traummann zu finden, wie manche schon immer vermuteten, dürfte gerade in den Anfangsjahren nur eine Mär gewesen sein. Wobei die Fantasie hier ja gerne weiter befeuert wird: Unvergessen sind etwa Filmszenen des Steven-Spielberg-Streifens „Catch Me If You Can“, in denen Leonardo di Caprio als Hochstapler-Pilot, neidisch beobachtet von anderen Männern, mit einer Riege giggelnder Stewardessen zum Flugfeld tänzelt.
Klischees wie dieses hätten der ernsthaften, weltweit ersten Stewardess ganz und gar nicht gefallen. Ellen Church, die wegen eines schweren Autounfalls nur 18 Monate den Dienst an Bord übernehmen konnte, stieg in den Folgejahren zur ersten weiblichen Luftfahrtmanagerin auf. Während des Zweiten Weltkriegs ging sie wieder an Bord und betreute verletzte US-Soldaten auf ihrem Weg in die Heimat. Die Erfahrungen ihrer zwei ersten Berufe, Krankenschwester und Stewardess, kamen ihr also noch einmal zugute. Ans Steuer von Flugzeugen kehrte die ehrgeizige Frau jedoch nie zurück. Ihren Pilotenschein hat die Pionierin der Luftfahrtgeschichte beruflich nie einsetzen können. 1965 starb sie 60-jährig nach einem Reitunfall. Erst ein Jahr zuvor hatte sie mit einer der anfangs eisernen Regeln für weibliche Flugbegleiter gebrochen: Sie hatte geheiratet.
Zu der Zeit wiederholte sich das Trauerspiel für Frauen an Bord dann übrigens noch einmal. Auf Deutschland bezogen, versuchte noch Anfang der 1970er Jahre mit Rita Maiburg eine Frau vergeblich, sich vor Gericht die Zulassung zur damaligen Pilotenschmiede Nummer eins zu erstreiten, der Bremer Verkehrsfliegerschule. Nur als Stewardessen sollten Frauen arbeiten – das Cockpit blieb vor 50 Jahren in Deutschland noch eine Männerdomäne. Ins Allerheiligste an Bord gehörte doch keine Frau!
Auch noch in den 1980er Jahren hagelte es selbst für Frauen, die sich bis zum Flugschein durchgebissen hatten, bei der Stellensuche reihenweise höfliche Absagen. Sabine Trube, später 767-Kapitänin bei LTU, erinnerte sich: „Ich war gut. So gut wie jeder, der da oben rumkurvte. Aber sie ließen mich nicht ran.“ Umso größer war die Begeisterung der Frauen, als man (oder besser: Mann) sie Ende der 1980er Jahre endlich doch „ranließ“. „Das war eine gute Zeit für uns“, meinte Nicole Ehrenschneider Mitte der 1990er Jahre, damals Kapitänin bei LH CityLine. „Ich stieg mit der Einstellung bei Hapag-Lloyd 1988 quasi von der Cessna auf die Boeing 737 um – eine tolle Chance.“
Die hatte damals auch Beatrice Zimmermann mit ihrem Einstieg bei der vormaligen DLT. „Da wurde gerade eine neue Flotte aufgebaut“, berichtete die nachmalige Condor-Kapitänin mir Mitte der 1990er Jahre in einer 737 nach Teneriffa. Vom „Einbruch in den Herrenclub“, davon, dass nun Frauen auch am Pilotenhimmel „nicht mehr zu bremsen“ seien, wie es Boulevardblätter meldeten, wollte aber auch sie nicht sprechen. „Es gibt wohl bei jeder Fluggesellschaft ein paar ältere Copiloten, die einem die vier Streifen missgönnen. Da muss man sich eben einigen, auf die eine oder andere Weise“, antwortete ZImmermann mir, als ich zwecks Reportage nach Teneriffa mit im Cockpit saß. Anschließend ging ich mit dem Schreibblock zu den Fluggästen. Starke Sprüche einiger Herren gab es da zu hören, während die weiblichen Ehehälften sich beschämt abwandten. „Ich will hier aussteigen, wenn eine Frau mich fliegt“, hieß es unter lautem Gelächter. Und auf die Frage „Warum?“ kam postwendend die Antwort: „Eine Frau kann das eben nicht so können wie ein Mann. Das hat sie nicht im Griff.“
Ellen Church hätte sich vermutlich im Grabe herumgedreht.
Erschienen am 9. Mai 2020 im General-Anzeiger Bonn, Journal
Foto: United
Neckermann-Kataloge: Die Bibeln des Wirtschaftswunders
Vor 70 Jahren verbreitete das Frankfurter Versandunternehmen Neckermann seinen ersten Katalog 100.000-fach in der Republik
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Homeshopping boomt. Die Deutschen lassen sich heute von den Jeans über die Espressomaschine bis zum Laptop so gut wie alles ins Haus schicken. Derzeit heizt die Corona-Krise den Versandhandel noch zusätzlich an. Zumal das Widerrufsrecht dem Kunden noch zwei Wochen nach der Lieferung garantiert, die Ware formlos ablehnen zu können. Paket zurück. Geld zurück. Basta.
Das alles war aber auch schon vor genau 70 Jahren möglich, als der Versandhändler Josef Neckermann (1912-1992) im Nachkriegs-Deutschland von Frankfurt am Main aus seinen ersten Warenkatalog herausgab. Schon 1948 im Jahr der Währungsreform hatte der spätere Olympiagold-Dressurreiter und Gründer der Deutschen Sporthilfe sein Textilunternehmen angemeldet. Zum 1. April 1950 hatte er die Firmenlogistik aufgebaut und die Neckermann Versand LG gegründet. Jetzt musste dafür ein Medium her, um an die rund 100.000 Adressen in seiner Unternehmenskartei heranzukommen: eben die „Preisliste“. Nur ein Dutzend Seiten umfasste dieses von Neckermann selbst konzipierte Druckerzeugnis. Immerhin 133 Textilangebote für die junge bis reifere Dame waren darin versammelt: im Stil von bunten Modezeichnungen gehalten, mit üppig die Modelle beschreibenden Texten. Die Seitentitel versprachen, dass die Kundinnen „Gut und preiswert gekleidet“ oder „Leicht und beschwingt im neuen Kleid“ in den Frühling starten konnten.
Um eine lange Versandhaustradition zu suggerieren, hatte der Chef diesen ersten Katalog mit der Nummer 119 versehen. Immerhin 100.000 Mal ließ er den Zwölfseiter auflegen. „Sollte eine Sendung nicht entsprechen, so schicken Sie dieselbe an mich zurück und Sie bekommen Ihre Auslagen in voller Höhe ersetzt. Das ist meine Garantie!“, versprach sein Geleitwort schon im April 1950. „Waren Sie aber zufrieden, dann empfehlen Sie mich bitte weiter. Mit freundlichen Grüßen“, fuhr der geschickte Werbetexter fort. Was in der konsumhungrigen Bundesrepublik sofort einschlug. Das Leid, die Ängste und die Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs waren endlich vorbei. Der neue Staat hatte sich konstituiert. Und Otto Normalverbraucher wollte sich die Dinge kaufen, von denen er viele Jahre nur hatte träumen können. Und das am besten gleich bequem vom Sofa aus. Das Unternehmen Neckermann und mit ihm diverse andere Versandhändler wie Quelle und Otto boten sich genau jetzt an, diese Träume zu erfüllen.
Was bei Neckermann bereits im ersten Jahr des Katalogversands mit einem Umsatz von zehn Millionen DM belohnt wurde. Flugs hatte der Chef die einfache „Preisliste“ zur edlen „Neckermann-Illustrierte“ umbenannt, die mehr und mehr anwuchs und ab sofort zweimal im Jahr neu erschien. Heute noch im Wirtschaftswundermuseum in Rheinberg oder im Hessischen Wirtschaftsarchiv in Darmstadt aufbewahrte Exemplare zeigen, dass diejenigen Kataloge, die zur Archivierung gedacht waren, sogar aufwändig in Leder eingebunden waren. Sie wurden die Bibeln der Wirtschaftswunderzeit. Neckermann konnte die Zahl der anfangs 107 Angestellten schon Ende 1951 auf 1.700 steigern. 1958 waren im Unternehmen gut 6.000 Menschen beschäftigt. 1960 musste eine neue Frankfurter Zentrale an der Hanauer Landstraße eröffnet werden. Vom anfänglich zu langen Slogan „Besser leben ein Leben lang, am besten gleich durch Neckermann“ war der Chef zu einem neuen Motto übergegangen, das jeder in der Bundesrepublik bald auswendig trällern konnte: „Neckermann macht`s möglich.“
In den 1950er Jahren war der Nachholbedarf der Bevölkerung an Konsumgütern halt enorm gestiegen. Neckermann weitete sein Textilangebot geschickt aus. Es waren möglichst biedere No-Name-Produkte, die das Unternehmen meist selbst herstellte. Aber der Deutsche wusste anfangs ohnehin noch nicht, was Markenprodukte waren. Wenn der bald immens an Seiten angewachsene Neckermann-Katalog mit längst auch farbigen Fotos in die Haushalte kam, dann wurde darin von Groß und Klein andächtig geblättert. Das Kopfkino lief auf Hochtouren. Alle diese Waren konnte fast jedermann, der in Lohn und Brot war, bestellen, ohne Aufwand und preisgünstig von zu Hause aus. Schon 1953 kamen Kleinmöbel, Lederwaren und Rundfunkgeräte ins Programm, ab 1955 Fahrräder und Waschmaschinen – alles hochwertige Produkte zu legendär niedrigen Preisen.
Was jedoch den Einzelhandel bald auf die Palme brachte. Als ein gutes Radiogerät für nur 187 DM und bald auch ein Fernseher für 648 DM im Katalog zu finden waren, ging der traditionelle Elektrohandel auf die Barrikaden: Er verkündete einen Neckermann-Boykott. Die Geräte, die im Katalog für ein Drittel des üblichen Marktpreises gekauft waren, werde kein Elektriker mehr reparieren, hieß es. Josef Neckermann ließ das kalt: Er baute in Windeseile einfach einen eigenen Kundendienst auf und schickte ihn mit firmeneigenen VW-Bussen durch die Republik. Und die Käufer dankten es ihm. Neckermanns Konzept ging bis in die 1970er Jahre auf. Sein Katalog wuchs zeitweise auf mehr als tausend Seiten an und war bis zu zwei Kilogramm schwer. Er war zu einer Ikone der Kaufkraft in der Bundesrepublik Deutschland geworden. Mit den Wälzern der anderen Versandfirmen lieferte die „Neckermann-Bibel“ den Beweis, dass das große Kaufversprechen der Republik wahr geworden war. Sie war die Inkarnation der Ludwig Erhard'schen Devise „Wohlstand für alle".
Heute lesen sich die Ausgaben mehrerer Jahrzehnte auch als Geschichtsbücher der Alltagskultur ab den 1950er Jahren: Die Rollenbilder waren über Jahrzehnte festgezurrt. Für die Frau gab es Kittelschürzen, Föhnhauben und Hollywoodschaukeln en masse. Männliche Kunden sollten besonders bei Outdoorjacken, Latzhosen für den Hobbyhandwerker und dem letzten Schrei der Technikwelt anbeißen. Übrigens pflegten auch Bürger der DDR und anderer osteuropäischer Staaten bis in die 1980er Jahre sehnsuchtsvoll in „den Dicken“ zu blättern, wenn ihnen West-Verwandte die guten Stücke über die Grenze geschmuggelt hatten. Und wenn die Familie ihnen die Wunschprodukte nicht ordern konnte, dann schneiderten sie jenseits des Eisernen Vorhangs die schicken Textilmodelle eben einfach selbst gemäß den Fotos nach. Im Kalten Krieg war Neckermann überall „in“.
Bis der Konzern seiner gnadenlosen Preispolitik wegen in die Pleite rutschte und schon ab 1977 die Karstadt AG Haupteigentümer wurde. 2010 hieß der Besitzer Sun Capital Partners. 2012 musste man einen Antrag auf Insolvenz stellen. Und seit 2013 betreibt der Konkurrent „Otto“ unter „Neckermann.de“ einen Onlineversand. Denn die Idee des Homeshoppings hatte in digitalen Zeiten generell längst zum Online-Handel geführt. Die Kataloge waren für nur noch bestimmte Käufergruppen geschrumpft. Schließlich war das Medium viel zu langsam und zu teuer geworden: Die Druckkosten für einst millionenfach vertriebene Wälzer hatten zeitweise bei 20 Millionen Euro gelegen. Der Neckermann-Katalog wurde als einer der letzten 2012 eingestellt. „Es ist eine Ära, die mit diesem Frühjahrskatalog zu Grabe getragen wird“, schrieben die Medien.
Blicken wir jedoch noch einmal zurück in die Anfangszeit, als im Frühjahr 1950 dieser ehrgeizige Unternehmer aus Oberursel mit seinen ersten dünnen Warenkatalogen gleich 100.000 Millionen DM Gewinn einfahren konnte. Dass dieser 38-Jährige zur Galionsfigur des deutschen Wirtschaftswunders werden sollte, war Ende der 1940er Jahre noch nicht abzusehen gewesen. Der Mann war zwar nicht neu im Geschäft. Aber der Sohn des „Rockefeller von Würzburg“, des Kohlenhändlers Josef Carl Neckermann, hatte rücksichtlos mit dem NS-Regime zusammengearbeitet, wie es Thomas Veszelits 2005 in seinem aufsehenerregenden Buch „Die Neckermanns: Licht und Schatten einer deutschen Unternehmerfamilie“ recherchierte. Der junge Neckermann sei schon 1933 der SA beigetreten, habe auf der berüchtigten Wolfsschanze Adolf Hitlers Geburtstag mitgefeiert und ab 1935 im Zuge der NS-„Arisierungs“kampage vier jüdische Unternehmen übernommen, darunter auch den damaligen Wäscheversandhandel der Familie Karl Joel.
Im Ghetto von Bialystok, so die Recherchen, habe Neckermann dann Zwangsarbeiterinnen Kleider verschleppter und ermorderter Juden für die deutsche Kriegswirtschaft umnähen lassen. So habe er es sogar zum "Reichsbeauftragten für Bekleidung" gebracht. „Ich war damals so jung, so ungestüm und auch ein bisschen verwirrt", sollte Josef Neckermann das 1992 in seinen „Erinnerungen" kurz vor seinem Tod erklären. Er sei nicht Täter, sondern nur Mitläufer gewesen. Wegen seiner NS-Vergangenheit war er Ende der 1940er Jahre als aufstrebender Geschäftsmann auch nie belangt worden. Er saß damals nur deshalb ein gutes Jahr ein, weil er gegen das Recht der US-Besatzer eigenmächtig einen Geschäftsführer eingestellt hatte. Danach war er wieder frei für seine neue Karriere. Den Joels, zu denen auch der US-Popsänger Billy Joel gehört, und einer weiteren jüdischen Familie zahlte Neckermann nach Prozessen in den 1950er Jahren Entschädigungen.
Dieser einst „ungestüme und ein bisschen verwirrte“ Unternehmer brütete also im Frühjahr 1950 bis kurz vor Druck über seinem ersten noch dünnen Neckermann-Katalog. Wie sollte er zu den Zeichnungen von luftigen Kleidern und streng geschnittenen Mänteln die Sprache seiner potentiellen Kundinnen treffen, fragte er sich. Ehefrau Annemi und Sekretärin Gerda Singer halfen aus. Das Modell „Marianne“ für die junge Frau von 1950 zeichne sich durch eine „aparte Streutupfen-Musterung und sehr flotte Machart“ aus, schrieb Neckermann nieder. Plissierte Georgette-Rüschen dagegen seien „der Schlager für die vollschlanke Dame jeden Alters“. Speziell der reiferen Frau gelinge es wiederum mit dem Modell „Agnes“, durch den „vollweit geschnittenen Rock“ heimliche Pölsterchen zu kaschieren. Und der Vorteil beim Modell „Anni“ in den Grundfarben Erika, Blue und Tinte sei, dass es fast schwarz erscheine und damit für Witwen in „Halbtrauer“ passe. Der geborene Verkäufer Josef Neckermann hatte einfach an alles gedacht.
Erschienen am 25. April 2020 im General-Anzeiger Bonn, Journal
Alleinsein als "Event". Was tun gegen den Corona-Blues?
Langeweile, Klagen über „Hausarrest“, Single-Blues: Können wir uns in Corona-Zeiten nicht manche Scheibe von der Lebenserfahrung der Eremiten abschneiden?
Von Ebba Hagenberg-Miliu
„Niemand ist eine Insel“ hieß die Tagung, zu der Ende November 2019 die Evangelische Akademie Thüringen eingeladen hatte. Ausgehend vom berühmten John-Donne-Zitat wurde fächerübergreifend darüber diskutiert, dass „insulare Zustände in unserer globalisierten Gesellschaft“ derzeit eine eigenartige Faszination ausüben, so Studienleiterin Sabine Zubarik. Dass also eine selbst gewählte Einsamkeit in der Literatur, im Film oder als gesellschaftspolitisches Gedankenspiel geheime Wünsche zahlreicher Menschen bediene. „Inselfantasien sind keineswegs neu, aber im Zuge einer global orientierten Gesellschaft erhalten sie neues Potenzial“, erklärte Zubarik. Der fantasierte Rückzug habe das Ziel, „über den Stellenwert eines Menschen im gesellschaftlichen Austausch und über die Sehnsucht des Einzelnen nach Reduktion nachzudenken.“ Schließlich wandte man sich auch dem realen Inselleben zu, nämlich heutigen Eremiten, die sich bewusst für das konsequente Alleinsein entscheiden. Das sei doch echt eine interessante Alternative zum alltäglichen Chaos, äußerten Teilnehmer nachdenklich.
„Die Einsamkeit ist ein Event. Schon Jahrzehnte habe ich kein Kino mehr von innen gesehen. Wozu auch?“ Anthon Wagner, schwäbischer Einsiedler
Schon kurz nach der Tagung sollten diese Schlussfolgerungen plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Am 1. Dezember 2019 tauchten im chinesischen Wuhan erste lungenentzündungsartige Symptome der Coronavirus 2019-nCOV-Infektion auf. Im Zuge der Pandemie sollten sie bald zu weltweiten Kontakteinschränkungen oder zur totalen Isolationspflicht führen. Seither müssen sich Milliarden Menschen sozusagen auf eine Insel begeben, um Leben zu retten. Seit Wochen wirbt auch das Berliner Bundesgesundheitsministerium für die freiwillige Isolation: mit dem Hashtag „Zusammen gegen Corona. Wir bleiben zu Hause“. Aus der auf der Thüringer Tagung geäußerten „grenzwertigen, jedoch anregenden Vorstellung“, an einem abgeschiedenen Ort der permanenten Beschallung und dem Stress des Alltags zu entgehen, war auf einmal bitterer Ernst geworden. Der Mensch, das soziale Wesen, muss seither, zumal wenn er als Single lebt, allein zurechtkommen.
Womit inzwischen nicht wenige an ihre Grenzen stoßen. Nicht mehr ins Kino oder in Konzerte, nicht in die Kneipe oder ins Fitnessstudio gehen zu dürfen, sei das nicht eine inakzeptable Zumutung, ja eine Bedrohung? Den Tag lang in der Wohnung und im Homeoffice zu hocken, ohne sich mal schnell mit den Kollegen oder Freunden zum Latte macchiato zu treffen, mache das nicht noch den Letzten verrückt? Psychologen sind sich einig: Langeweile in den vier Wänden verstärkt den Single-Blues. Die Pandemie steigert die Sehnsucht nach körperlicher Zuneigung. Ersatz muss her. Umfragen zeigen, dass Dating-Apps und Pornoseiten steigende Nutzerzahlen verzeichnen. Einsamkeit sei oft ein Vorläufer für gesundheitliche Probleme wie Depressionen, Angst- und Suchtstörungen, aber auch Herz-Kreislauferkrankungen, warnen Mediziner. In den Medien werden sofort Adressen der Hilfe-Hotlines und Telefonseelsorge hinzugedruckt.
„Eremiten dürfen auf keinen Fall Romantiker sein. Eremitagen sind keine Idylle, sondern geistige und geistliche Kampfplätze.“ Schwester Renate, Eremitin in NRW
Mitmenschen posten: „Ich bin in die Großstadt gezogen, um der Isolation des Dorfs zu entkommen. Und nun sitze ich wütend auf meinem Bett und schreibe diesen Text. Allein. So isoliert wie nie zuvor.“ Kluge Köpfe warnen: Die Grundrechtseingriffe im Corona-Jahr 2020 seien extremer als jemals befürchtet. Eine ganze Bevölkerung lasse sich unter Hausarrest stellen, ohne gesetzgeberischen Aufwand, mit einem Fingerschnippen der Exekutive quasi. Und nach Umfragen stimmten dem auch noch über 90 Prozent der Deutschen lammfromm zu. Einzelne marschieren mit Schildern durch die Stadt wie: „Keinen Bock auf Polizeistaat und Überwachung zu haben ist nicht unsolidarisch, sondern fucking notwendig". Andere reichen gegen die Beschränkungen Klage ein, die deutsche Gerichte bislang zurückweisen. Im Netz versuchen derweil Neonazis, Reichsbürger und Linksextreme, mit Propaganda und Verschwörungstheorien aus der Notsituation Kapital zu schlagen.
„Meine Lebensregel heißt: den überwiegenden Teil des Tages im äußeren und inneren Schweigen zu bleiben.“ Bruder Gereon, friesischer Eremit
An diesem Punkt lohnt wirklich ein Blick auf das, was heutige Eremiten leben, diese seltsame Spezies, die die Abgeschiedenheit vom Alltagstrubel selbst gewählt hat. An die 100 dieser Menschen soll es unter Katholiken und orthodoxen Christen in deutschsprachigen Ländern geben. Dazu kommen Eremiten anderer Religionen und sozusagen Feld-Wald-und-Wiesen-Einsiedler. Die „strenge Trennung von der Welt“, die „Stille der Einsamkeit“, so das katholische Kirchenrecht, die Askese und meist auch die Enthaltsamkeit sind ihnen allen zum Prinzip geworden. Eremiten versagen sich jegliche Besuche, Ausflüge und die Teilhabe an geselligen Terminen, deren Mangel aktuell Geschädigte der Corona-Krise beklagen. Eremiten bleiben von sich aus in ihrer Klause, die sich an Kapellen befinden kann, welche sie versorgen, wie im Fall der Godesberger Schwester Benedicta oder bei Bruder Hugo im niederländischen Warfhuizen. Eremiten können aber auch im Mehrfamilienhaus um die Ecke wohnen, ohne dass die Nachbarn davon wissen, oder im Schäferkarren auf der Schwäbischen Alb wie Anthon Wagner.
„Ich muss mir Rechenschaft über mein Leben abgeben. Ohne eine feste Tagesstruktur geht alles den Bach runter.“ Bruder Hugo, niederländischer Eremit
Diese Eigenbrötler teilen in ihrem selbst gesuchten Asyl aber durchaus auch die Leiden der ungewollt Einsamen unserer Corona-Krisenwochen. Denn das plötzliche Alleinsein ist für jeden erst einmal anstrengend. Es gilt das erbarmungslose Ticken der Uhr auszuhalten. 24 Stunden nur für sich können endlos lang werden. Selbst Anthon Wagner, der seit über 40 Jahren in einem zwei mal zwei Meter großen Schäferkarren lebt, sagt: „Ich habe lernen müssen, mir selbst Aufgaben zu stellen, Kreativität aus dem Nichts zu entwickeln und dann auch dran zu bleiben. Sei es beim Tun oder Denken.“ Andererseits ist dieser Einsiedler Lebenskünstler genug, sich auch immer mal wieder nur der Natur um ihn herum hinzugeben. „Ganz ohne Zweck. Und immer mit der beruhigenden Gewissheit: Du versäumst jetzt gar nichts.“ Doch ohne feste Zeiteinteilung kommen auch die meisten Eremiten nicht aus. Damit sein Leben in Zurückgezogenheit und Stille gelinge, brauche er eine Hilfe, die seinem Tag Struktur gebe, erläutert etwa Bruder Gereon. Er ist ein Eremit in Friesland, der früher mit Jürgen Becker auf rheinischen Kabarettbühnen herumturnte, ein einstiger Mann des Wortes also, der jetzt das Schweigen zum Atmen braucht. Er habe diese Hilfe in den katholischen Stundengebeten gefunden, die seither den Pulsschlag seines Lebens bildeten.
„Nach einem halben Jahr als Eremitin begann ich, nicht mehr stolz zu sein. Das vergeht einem dann.“ Schwester Benedicta, Eremitin in Bonn
Mag das Alleinbleiben selbst für Einsiedler anfangs schwer sein, sie begreifen es aber vor allem als Chance, innezuhalten und zur Ruhe zu kommen. Was aber praktisch heißt: Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen, wie es derzeit auch die von den Beschränkungen der Corona-Krise betroffenen Singles erleben. „Man muss lernen, sich selbst auszuhalten. Und dann kann man die Schuld nicht mehr bei anderen suchen“, beschreibt Schwester Benedicta, seit 15 Jahren Eremitin an der Godesberger Michaelskapelle, die Aufgabe. Der Einsame, ob nun freiwillig oder erzwungen, muss dem eigenen Blick standhalten. Er findet damit aber die Voraussetzung vor, einmal Kassensturz zu machen, sein Leben, seine Beziehungen und Bedürfnisse auf die Waage zu legen - und vielleicht Konsequenzen zu ziehen. Für den Eremiten, aber auch für den Menschen in Corona-Zeiten gibt es also keine Reisen, keine kleinen Fluchten mehr. Aber jetzt können sie endlich ein ganz anderes Abenteuer starten, das wohl spannendste überhaupt: die Reise nach innen, zu sich selbst. Wenn die gelinge, könne man erfahren, welches Potential an Ideen bisher unerkannt in einem schlummerte, berichtet Anthon Wagner aus seinem Schäferkarren. „Auch verrückte Gedanken sollte man zulassen. Das kann richtig Spaß machen.“
„Schenken Sie sich selbst Eremitenstunden. Lernen Sie, die Stille auszutrinken, um Ihr Leben wieder neu zu ordnen.“ Schwester Maria Baptista, Schweizer Eremitin
Wie wäre es also, sich in der erzwungenen Einsamkeit der Corona-Pandemie die eine oder andere Scheibe von Eremiten-Erfahrungen abzuschneiden? Anthon Wagner, der Einsiedler von der struppigen Wiese auf der Schwäbischen Alb, antwortet auf die GA-Frage: „Ob andere etwas von mir lernen können, weiß ich nicht. Vieles klappt nicht spontan. Es braucht Übung. Wer sich darauf einlässt, könnte
vielleicht Glück erfahren und Vertrauen zu sich selbst.“ Findige Veranstalter haben in dieser Hinsicht jedenfalls seit Jahren eine Marktlücke entdeckt. Für denjenigen, der Erholung fernab der Medien- und Reizüberflutung sucht, gibt es Auszeiten in katholischen und evangelischen Klöstern zu buchen. Stille- und Exerzitienhäuser haben Einzelgast-Aufenthalte vorbereitet, damit der Kunde seinen Standort neu bestimmen kann. Ein weiteres eremitisches Schnupperangebot bildete bis 2019 zehn Jahre lang das Projekt „Turmeremit“ im österreichischen Linz. Mehr als 150 Probeeremiten nutzten dort die Möglichkeit, die 395 Stufen des Mariendoms zu steigen, um jeweils eine asketische Woche im karg ausgestatteten Turmstübchen zu mieten. Bei Kost und Logis galt es, innezuhalten und über das eigene Leben zu reflektieren. Nach der Domrenovierung soll es damit weitergehen.
Dieses Erlebnis kann in Corona-Zeiten jeder in seinem heimischen Büro preiswerter haben. Die Kollegen und Freunde sind zwar online nah, aber analog fern. Den Nerven raubenden Weg zur Arbeitsstelle kann man sich sparen. Der Tag kann aufs Wesentliche konzentriert werden. Man kann Ballast abwerfen – und vielleicht aus neu gewonnenen Kräften auch einmal wirklich Zeit für ein Anteil nehmendes Telefonat oder einen Brief an andere finden, die es wert sind. Wie Eremiten es tun. Die meisten von ihnen betreiben nämlich eine Art Seelsorge. Sie leisten Hilfesuchenden Beistand. Und zwar kostenlos und uneigennützig.
„Die Kunst zu leben ist die Kunst zu lassen. Und nach dem Geben nicht mehr nachzufassen.“ Anthon Wagner, schwäbischer Einsiedler
Erschienen am 25. April 2020 im General-Anzeiger Bonn, Journal
Foto: aus: Ebba Hagenberg-Miliu, Allein ist auch genug. Wie moderne Eremiten leben, Gütersloher Verlagsanstalt 2013
Roldolfo Valentino: Vom Gigolo zum Stummfilmstar
Vor 125 Jahren wurde im italienischen Castellaneta Rodolfo Valentino geboren. Nach nur 31 Lebensjahren endete 1926 eine der erstaunlichsten Filmkarrieren
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Der Erfolg, einmal einer der weltweit am meisten verehrten Filmschauspieler zu werden, war dem kleinen Rodolfo Guglielmi aus dem unbedeutenden Nest Castellaneta in Süditalien vor 125 Jahren wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Als Zweitältester war er am 6. Mai 1895 in eine einfache Veterinärsfamilie hineingeboren worden. Als der Vater frühzeitig starb, lief der Junge der überforderten Mutter aus dem Ruder. Als Witwe hatte sie kein Geld mehr, ihn in der Kavallerie unterzubringen. Und auch auf der Marineakademie wollten sie ihn nicht nehmen: Roldolfo galt als träumerisch und störrisch. Er selbst erklärte als Erwachsener, dass er die gestellten Aufgaben wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht habe lösen können. Die gestrengen Onkel im apulischen Kaff jedenfalls hielten 1913 gnadenlos Gericht über ihn. Der mutmaßliche Tunichtgut sollte fort. So verfrachteten sie ihn alleine auf ein Auswandererschiff Richtung New York.
Ohne Geld, ohne ein Wort Englisch zu können und ohne Ausbildung streifte der 18-Jährige also bald in Brooklyn durch die für ihn fremde Welt. Den ersten Job als Gärtner schmiss er hin. Dabei erwartete die naive Mutter in Italien dringend Geldsendungen. Das einzige Kapital des jungen Mannes aus Apulien war sein gutes Aussehen. Der berühmte Filmregisseur David Wark Griffith, dem Rodolfo Guglielmi 1919 auf der Suche nach „neuen Gesichtern“ auffiel, schrieb später von „Rudys ausdrucksvollem Profil“. Griffith „war sofort von der Photogénique, wie es die Franzosen nennen, beeindruckt, und von der Qualität seiner perfekten äußeren Erscheinung.“ Dass der Regisseur von Filmen wie „The Birth of a Nation“ den fotogenen Italiener dann doch nicht besetzte, lag daran, dass „Rudy“ bei Probeaufnahmen zu dick auftrug. „Wir konnten ihn nicht daran hindern, mit wilden Gesten in südländischer Manier die Luft zu zersägen“, erinnerte sich Griffith später. Der unerfahrene Einwanderer hatte also seine erste Chance, Fuß im aufstrebenden amerikanischen Filmgeschäft zu fassen, vermasselt.
Was für einen jungen Mann, der anfangs im Central Park schlief, blieb, waren Jobs als bezahlter Tanzpartner in Hotels und Nachtclubs. Der argentinische Tango war in den amerikanischen Großstädten gerade in Mode gekommen. Da passte es für südländisch aussehende Arbeitslose doch gut, ältere Damen und junge Witwen über den Tanzboden zu schieben, um selbst über die Runden zu kommen. Wobei dieser hübsche Eintänzer aus Castellaneta eigentlich gar nicht der Typ Gigolo war, der auf die Mitgift reicher Erbinnen schielte. Zeitgenossen erinnerten sich später: „Rudy war schüchtern, beinahe gehemmt im Umgang mit Frauen.“ Die Arbeitskollegen hätten also ein paar Jahre danach nicht schlecht über das Latin-Lover-Image des Filmstars gestaunt, „wussten wir doch, wie oft man Rudy buchstäblich mit Gewalt dazu bringen musste, eine schöne Frau anzusprechen.“
1919 war der Tangotänzer jedoch erst einmal am Tiefpunkt angelangt. Er hatte zwar schnell Englisch gelernt, Französisch konnte er von seiner Mutter her. Inzwischen war Guglielmi nach Los Angeles gewechselt, hatte als Komparse Kontakt zur dortigen Filmkolonie geknüpft und kleine Rollen ergattert. Doch dann erkrankte er an der Spanischen Grippe und machte seiner Mutter auf Briefpapier großer Hotels weiterhin vor, dass es ihm in den USA gut gehe. Seine erste Ehe mit der kleinen C-Schauspielerin Jean Acker scheiterte kläglich. Die Filmszene zerriss sich das Maul, dass dieser charmante, aber schüchterne junge Mann auf eine Lesbe auf Ehemann-Fang hereingefallen war.
Da wurde er schließlich von der einflussreichen Drehbuchautorin June Mathis entdeckt, die ihn fortan in seine erfolgreichsten Filmprojekte vermitteln sollte. Bis dahin habe der US-Spielfilm drei Männertypen herausgebildet, den Komiker, den Helden und den Mann von nebenan, schrieb 2003 die Kulturwissenschaftlerin Renate Berger in ihrer Valentino-Biografie, die mit jahrzehntelang gepflegten Klischees über den Stummfilmstar aufräumte. June Mathis habe den attraktiven jungen Mann aus Apulien geschickt als Filmtyp „romantischer Liebhaber“ aufgebaut. Sie habe sein einmaliges Leinwand-Potential erkannt, hinter einem Lächeln immer auch einen Zug zur Melancholie zu verbergen, was ihn im Stummfilm unwiderstehlich machte. Guglielmi ließ sich von da an Rodolfo Valentino nennen, auch das ein geschickter Schachzug. 1921 gelang ihm schließlich dank Mathis im Film „The Four Horsemen of the Apocalypse“ unter der Regie von Rex Ingram der Durchbruch. A Star was born - von jetzt an wurde Valentino in den fünf Jahren, die ihm in seinem kurzen Leben noch blieben, von Menschenmassen angehimmelt.
Die zweite wichtige Frau seines Lebens sollte dann die schöne Winifred Kimball Shaughnessy sein. Die ehemalige Tänzerin hatte sich unter dem schicken Künstlernamen Natacha Rambova einen Namen als Hollywood-Designerin gemacht. Als sich der sensible Valentino unsterblich in sie verliebte, übernahm die ebenso intellektuelle wie ehrgeizige Rambova beruflich wie privat sein Management. Seine Augenbrauen wurden fotogen gezupft, die Frisur mit Pomade gebändigt. Valentino, der seine Gäste für sein Leben gern mit Spaghettis à la Mamma bekochte, musste abnehmen. Aber er war glücklich mit der Liebe seines Lebens und betrieb die Scheidung von Jean Acker. Diese arbeitslose Schauspielerin wiederum hatte Lunte gerochen und wollte aus einem Valentino für sich noch möglichst viele Gelder und Schlagzeilen herauspressen. Ein hässlicher Scheidungskrieg begann, in Folge dessen Valentino sogar kurzzeitig inhaftiert wurde.
Ende 1921 war das erste gemeinsame Projekt Valentinos mit Rambova, der Kassenschlager „Der Scheich“, herausgekommen. Der neue Star kam auch dank Rambovas exotischer Kostüme umwerfend herüber, erotisch, leidenschaftlich ohne jede Vulgarität. Weltweit fielen Zuschauerinnen reihenweise in Ohnmacht. Ein neuer Typus Schauspieler hatte die Leinwand erobert. Junge Männer entdeckten eine arabisch anmutende Scheichmode für sich. „Dieser junge Schauspieler mit seiner romantischen Subtilität und seiner Lebhaftigkeit“ spiele regelrecht „erregend“, urteilten selbst die Feuilletons. Inzwischen hatte Valentino also begriffen, dass er mit temperamentvollem Gestikulieren im amerikanischen Film nicht weiterkam. Nach diesem Blockbuster von 1921 sollte er bis zu seinem plötzlichen Tod 1926 noch zehn weitere und meist erfolgreiche Filme als Hauptdarsteller herausbringen. Und zehn Male sollte er mit wachsender Schauspielkunst noch gegen das ihm selbst peinliche „Scheich“-Image anspielen.
Er sah sich nämlich selbst nicht als exotische Sehnsuchtsgestalt amerikanischer Frauen. Der Mann blieb zurückhaltend. Er wollte eigentlich eine ganz normale Ehe führen. Doch die Paparazzi sollten ihn und Rambova, die er nach dem Rosenkrieg 1922 schließlich heirateten konnte, von nun an nicht mehr in Ruhe lassen. Das Paar wehrte sich, so gut es konnte. Im Team mit seiner Frau sollte Valentino sich sogar auf einen Kompetenzkampf mit den Studiobossen des Marktgiganten Paramount einlassen. Das Paar wollte bei der Filmproduktion mitsprechen. Speziell die ehrgeizige „Mrs. Valentino“ wollte nach dem Erfolg des „Scheich“-Films künstlerisches Mitgestaltungsrecht erhalten. Ihr Mann fühlte sich nur mit ihr im Rücken sicher. Die beiden waren privat wie beruflich ein prima Team. Doch Paramount blockte erst einmal.
So überbrückten die Valentinos ein Jahr erzwungener Drehpause dank eines lukrativen Werbeauftrags sogar öffentlichkeitswirksam: In über einem Dutzend US-Großstädten traten sie für ein Kosmetikprodukt Abend für Abend als glamouröses Tanzpaar auf. Beide zeigten sich in Höchstform. Eindrucksvolle Fotos zeigen noch heute, wie perfekt die beiden sich ergänzten. Valentinos Fangemeinde wuchs täglich an. Mit zwei Plattenproduktionen bewies er dank seines samtig weichen Baritons und des fast akzentfreien Englisch sogar, dass er in ein paar Jahren den Übergang vom Stumm- zum Tonfilmstar hätte mühelos schaffen können. Nur die Europareise des Paares endete nach umjubelten Besuchen in Paris und London in einem Fiasko: Zum ersten Mal zurück in Italien erkannte ihn dort auch in seiner Heimatstadt keiner mehr. Die Mutter war verstorben. Als die Geschwister begriffen, wen sie da vor sich hatten, wollten sie Geld sehen. Der Junge aus Castellaneta beschloss, dass nun die USA seine Heimat war.
Das Paar hatte sich inzwischen teure Anwesen gekauft, mit Antiquitäten ausgestattet und verschuldet. Paramount lenkte ein. Valentino wurde mitsamt seiner Frau als künstlerischer Beraterin und Ausstatterin wieder beschäftigt. In den Studios hatten sich zu viele Säcke mit Fanpost angesammelt, die die Rückkehr des Frauenlieblings forderte. Valentino hatte inzwischen erfolgreich auch einen spanischen Torero („Blood and Sand“, 1922) und einen indischen Rajah („The Young Rajah“, 1922) dargestellt. Er war zum ersten medialen Superstar geworden, der diesen Namen verdiente. Mit dem Streifen „Monsieur Beaucaire“ stattete ihn nun 1924 seine Ehefrau meisterhaft als Herzog am Hof des französischen Königs Ludwig XV. aus. Langsam befreite er sich darin vom Zwang, nur schön sein zu müssen. Valentino reifte mit 29 Jahren zum Charakterdarsteller. Keine rollenden Augen mehr, dafür subtile Gesten und seine unnachahmlich verschatteten Blicke. Doch hinter den Kulissen suchten die Filmstudios schon nach möglichen Nachfolgern seines Schauspielertyps: Ramon Novarro war einer von ihnen. Denn Paramount sollte die Machtprobe der Valentinos nicht vergessen haben. Und die Einschätzungen der Presse schienen 1924 langsam zu kippen, wie Buchautorin Berger belegt.
Im Sommer 1926 machte schließlich ein anonym bleibender Journalist Valentino für eine angebliche „Feminisierung amerikanischer Männer“ verantwortlich und verdächtigte ihn der Homosexualität – eine absurde Behauptung, die aber in der damaligen US-ameríkanischen Gesellschaft einen tödlichen Vorwurf darstellte, so Berger. „Hollywood ist die Schule der Männlichkeit“, verlangte der anonyme Schreiber im Artikel „Pink Powder Puffs“, also rosa Puderquasten. „Rudy, der hübsche Gärtnerjunge, ist der Prototyp des amerikanischen Mannes? Ach Süßer“, höhnte der Schreiber. Die von Rambova im Film gewählte Requisite der Puderquasten am Versailler Hof war dem Schauspieler zum Verhängnis geworden. Postwendend versuchte der zutiefst getroffene Valentino, sein maskulines Image mit einem öffentlichen Boxkampf aufzupolieren. Doch der neue Vertragsentwurf der Filmstudios zerstörte schließlich die so glückliche und kreative Partnerschaft der Valentinos. Paramount versprach dem inzwischen verschwenderisch lebenden Star zwar attraktive Filmrollen, aber verlangte, Natacha Rambova vom Set auszuschließen.
Valentino unterschrieb zähneknirschend, um nicht pleite zu gehen. Für die Presse gab er an: „Ich liebe das Madonnenhafte an den Frauen.“ Doch seine eigene Frau war nicht bereit, das Schmuckstück oder das Heimchen am Herd zu spielen. Die Ehe zerbrach. Valentino litt wie ein Tier. Er verlor sein Gleichgewicht und trieb sich, erstmals in seinem Leben, mit Stars und Sternchen herum. Der Mann, der selbst Gedichte schrieb, war ins Räderwerk der Traumfabrik geraten. Rambova versuchte, sich separat selbst künstlerisch zu verwirklichen, und schrieb Kritisches über Hollywood, das nur „eine Imitation einer vergoldeten Hölle“ sei. Dort finde doch letztlich nur ein „ständiger Kampf unbedeutender Leute, berühmt zu werden“, statt. Valentino selbst war nicht imstande oder so mutig, sich so aufgeklärt zu wehren.
Der „Liebesgott“ unzähliger Kinogängerinnen nahm inzwischen obskure Mittel gegen Haarausfall ein. Es könne sich doch wohl keiner einen Latin Lover mit Glatze vorstellen, begründete er das. Mehrfach fanden ihn die Crews seiner letzten Filme schmerzgekrümmt vor. Es drohten enorme Steuerschulden. Am 13. August 1926 lieferte man den 31-Jährigen mit einem durchbrochenen Magengeschwür in ein New Yorker Krankenhaus ein. Eine Bauchfell- und eine Lungenentzündung kamen hinzu. Es gab noch keine Antibiotika, so dass der beliebteste Star der Stummfilmzeit ins Koma fiel. Am 23. August 1926 war der Junge aus dem süditalienischen Nest Castellaneta tot. Doch die Legende vom ersten unwiderstehlichen Filmliebling, die geht bis heute weiter.
Erschienen am 02. Mai 2020 in: General-Anzeiger Bonn, Journal
Alle reden über Antisemitismus: Der Fall Cohen-Bouvier
Nachkommen der Verleger Cohen-Bouvier laden zum Gedenken an acht Mitglieder der für Bonn bedeutsamen Familie
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Bonn. Da trauten Christiane und Friedegard Cohen auf dem Poppelsdorfer Friedhof ihren Augen nicht: Die Ruhestätte ihrer Verwandten der Familie Cohen und Bouvier, die auf der Orientierungstafel am Eingang als „bedeutsames Grab“ bezeichnet wird, war im Mai 2018 ohne Rücksprache mit ihnen von der Friedhofsverwaltung leergeräumt, die Fläche frisch eingesät worden. Den mächtigen Grabstein habe die Stadt nach Auskunft der Verwalter „entsorgt“, und erst ein Freund habe ihn dann beschädigt gefunden und bei einem Steinmetz gesichert, sagt Friedegard Cohen. Sie gehört zum Kölner Zweig der im Rheinland bekannten jüdischen Familie und setzt sich mit ihren Geschwistern seither für die Wiedererrichtung, Würdigung und für eine Übernahme der Verantwortung durch die Stadt Bonn ein.
„Die Grabstätte der Familie Cohen-Bouvier auf dem Poppelsdorfer Friedhof ist versehentlich durch die Stadt abgeräumt worden“, antwortet Markus Schmitz vom Presseamt auf GAS-Anfrage. Die Grabstätte sei zwar weder denkmalgeschützt noch eine Ehrengrabstätte, dennoch sei sie als erhaltenswerte Grabstätte eingestuft und hätte deshalb nicht abgeräumt werden dürfen. „Für dieses Versehen hat die Stadt die Familie um Entschuldigung gebeten“, so Schmitz. Die Grabstätte sei zwischenzeitlich auf Kosten der Stadt wiederhergerichtet worden und werde künftig von der Stadt unterhalten. Aus diesem Anlass lädt die Familie am 15. November ab 13.30 Uhr zu einer Gedenkfeier in der Poppelsdorfer Kapelle, Servitenstraße 11, und am Grab ein. „Die Familie Cohen hat immerhin Bedeutendes für die Stadt geleistet“, betont die Nachfahrin. Generationen von Bonnern hätten in der Universitätsbuchhandlung Bouvier eingekauft, ohne zu wissen, dass sie zuvor schon über 100 Jahre das gerade für die Universität wichtige Geschäft des Verlags Cohen gewesen war.
Am Poppelsdorfer Grabstein entlang lässt sich die 100 Jahre erfolgreiche, dann aber tragische Geschichte der Verlegerfamilie Cohen erzählen. Friedegard Cohens Vater Erich (1922-2013) hat dazu detailliert recherchiert. Im Grab liegt also Friedrich Cohen (1836-1912) mit seiner Frau Helene (1842-1914), der die seit 1829 prosperierende Buchhandlung seines Vaters Maximilian Cohen (1806-1865) bis 1912 am Standort Am Hof 30 zur ersten Adresse gemacht hatte. Die Wissenschaft der Universitätsstadt ging direkt gegenüber dem Hauptgebäude bei den Cohens ein und aus. Des Vaters Grab wie auch das des Urahnen Benjamin Rappoport Cohen, der Oberrabiner von Köln und Bonn gewesen war, ist heute noch auf dem jüdischen Friedhof in Schwarzrheindorf zu finden.
Friedrichs Sohn Fritz Cohen (1872-1927) liegt mit seiner Frau Hedwig Cohen-Bouvier (1883-1960) ebenfalls im Poppelsdorfer Grab. Bis zu seinem plötzlichen Tod 1927 expandierte er das Verkaufs- und Verlagsgeschäft enorm und verstärkte das Engagement für die Bildende Kunst: nicht zuletzt durch die Hilfe seines Bruders Walter Cohen (1880-1942), eines renommierten Kunsthistorikers, der ab 1908 Direktorialassistent am nachmaligen Landesmuseum Bonn und später Kustos der städtischen Kunstsammlungen Düsseldorf war. Walter Cohen war mit der Maler-Avantgarde, mit August Macke, Franz Marc und Paul Klee, befreundet. Er brachte 1913 die legendäre „Ausstellung Rheinischer Expressionisten“ in den Kunstsalon seines Verlegerbruders Fritz Cohen. „Wir erinnern bei unserer Gedenkfeier auch an Walter Cohen“, sagt Friedegard Cohen. Der von den Nazis verfolgte Verwandte musste 1942 im KZ Dachau sterben.
Fritz Cohens Witwe Hedwig wiederum schaffte es gut zehn Jahre, die Geschäfte gegenüber der Universität auch unter dem Druck der Nazis weiterzuführen. Aber obwohl sie, eine geborene Bouvier, 1938 noch den Firmennamen zu einem nicht jüdisch klingenden „H. Bouvier & Co.“ veränderte, musste sie die Leitung dann ihrem Prokuristen Herbert Grundmann übergeben, so Friedegard Cohen. Das Geschäft sollte dann bis zur Schließung 2013 unter dem Namen „Bouvier“ weiter bestehen: bis 2004 durch die Familie Grundmann und zuletzt durch das Unternehmen Thalia.
Ebenfalls im Poppeldorfer Grab liegen die Söhne von Hedwig Cohen-Bouvier, Fritz Cohen (1904-1967) und Klaus Bouvier (1910-1994), und zwar mit der Frau von Fritz, Elsa Kahl-Cohen (1901-1992). Alle Drei mussten wie die Cohen-Schwester Dora ihr Leben vor den Nazis durch Flucht nach England und in die USA retten. Klaus hatte Verlegernachfolger in Bonn werden sollen. In New York arbeitete er später im selben Beruf. Bruder Fritz (Friedrich Alexander) war Komponist und machte mit seiner Frau Elsa, einer Tänzerin, in der erfolgreichen Musik-Company Kurt Joos Karriere. Originalnoten des in den USA als Frederick A. Cohen bekannten Musikers sind kürzlich wiedergefunden worden. Der Musiker Albrecht Maurer werde bei der Gedenkfeier in Anlehnung an diese Kompositionen zu Bildern der Toten Geige spielen, sagt Friedegard Cohen.
„Wir wollen der sieben in der Grabstätte ruhenden Menschen und des in Dachau getöteten Verwandten und ihrer Bedeutung für das Kulturleben der Stadt Bonn und darüber hinaus gedenken,“ so die Nachfahrin. Bonner Bürger seien herzlich willkommen, auch ihre Erinnerungen an die Cohens beizusteuern. „Alle reden über Halle, alle über Antisemitismus. Hier kann Bonn ein Zeichen setzen“, meint Friedegard Cohen. Enttäuscht seien sie als Einlader jedoch, dass wohl weder von der Stadt noch von der Universität Vertreter kommen werden, fügt sie hinzu. „Diese Zurückhaltung verstehen wir nicht.“
Foto: Familie Cohen-Bouvier
Erschienen am 13. November 2019 im General-Anzeiger Bonn, https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/stadt-bonn/bonn-stadt-raeumt-grabstaette-von-juedischer-familie-ab_aid-47142461
Poesie als "Lebens-Mittel": 250 Jahre Friedrich Hölderin
Rüdiger Safranski legt eine ausgezeichnete Hölderlin-Biografie vor
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Eine Annäherung an Friedrich Hölderlin tut Not. Und das besonders im Jahr seines 250. Geburtstags am 20. März. Es hat wohl jeder Gymnasiast einmal blendend schöne Verse dieses Dichters zu interpretieren bekommen wie „Mit gelben Birnen hänget / und voll mit wilden Rosen / das Land in den See“.Doch Hölderlin, der 1770 in eine so pietistische schwäbische Familie hineingeboren wurde, dass sie ihm schier die Luft zum Atmen nahm, war auch Autor seltsam hymnischer Verse. Und deren „hoher Ton“ pflegte sogar den gönnerhaften Johann Wolfgang von Goethe zu nerven.
Erst das beginnende 20. Jahrhundert feierte den 1843 verstorbenen Schwaben plötzlich als einen der größten deutschen Dichter. Doch ein Jahrhundert später herrscht Ratlosigkeit. So hat der Literaturwissenschaftler und Philosoph Rüdiger Safranski mit seinem aktuellen Buch eine neuen Anlauf genommen. Er nähere sich Hölderlin „mit aller Behutsamkeit, schreibt er. Safranski hat seit vielen Jahren mit Monografien u.a. über Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, E.T.A. Hoffmann oder Friedrich Nietzsche einen Ruf als der große deutsche Klassiker-Biograf erworben. Jetzt hat er also den so eigenartigen schwäbischen Hymnenschreiber unter die Lupe genommen.
„Eine Annäherung an Hölderlin wird wohl kaum gelingen, wenn man unempfindlich bleibt für göttliches Feuer“, beschreibt Biograf Safranski selbst die Bedingung für ein Rendezvous mit dem genialen Lyriker. Das, was in Leben und Werk Hölderlins gebrannt habe, sei die grenzenlose Passion für Dichtung gewesen. „Poesie war für Hölderlin Lebensmittel, im höchsten Sinne und in Einsamkeit und Verbundenheit“, so Safranski. Weder Humor noch Ironie habe bei diesem „Priester der Poesie“ die Begeisterung für das Wort abgefedert. „Komm! Ins Offene, Freund!“ hat Safranski nach einem Hölderlin-Zitat sein Buch untertitelt. Und wer sich nicht auf eine Reise in den reichen Kosmos philosophischer und poetischer Höhenflüge der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert einlassen will, ist wohl auch als Leser der Biografie verkehrt am Platze. Wer aber akribischer Recherche und kluge Einordnungen schätzt, kommt voll auf seine Kosten.
Denn Safranski lässt sie alle auftreten, die in Hölderlins Denken die wichtigsten Rollen spielten: Die „jungen Wilden“ Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling zum Beispiel, mit denen Hölderlin, der widerwillige Student im Tübinger Stift für angehende evangelische Pfarrer, gemeinsam erregend revolutionäre Philosophiekonzepte austüftelte. Der Freundschaftsbund kreierte alsbald das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus. Doch Hölderlin musste „sich von der Philosophie befreien, die ihn zunächst doch so befeuert hatte. Als Poet ging er über sie hinaus“, beschreibt Safranski trefflich den Prozess, den der junge Dichter durchlief. Hölderlins folgenden Fixsterne wurden die Weimarer Klassiker: Schiller, der den viel versprechenden Poeten förderte, aber dessen Gedichte dann doch nicht alle publizierte, und Goethe, der seinen jungen Bewunderer abwimmelte. Er möge seine Dichtung doch bitte ein wenig kleiner aufziehen.
Johann Gottlieb Fichte, ein weiterer „Star am Philosophenhimmel“, kreuzt im Buch Hölderlins Wege ebenso wie der Schriftstellerkollege Isaac von Sinclair, durch dessen Begeisterung für die Französische Revolution der eher zögerliche Hölderlin fast in einen Hochverratsprozess hineingeschlittert wäre. Und es ist ein großer Gewinn des Buches, wie glasklar Safranski die philosophischen und philologischen Stränge und Verästelungen dieses so überaus reichen Netzwerks Hölderlins aufzufädeln weiß. Denn einsam war der gutaussehende verhinderte Pfarrer in seinen ersten Lebensjahrzehnten keineswegs, sondern als Hauslehrer in reichen Häusern ständig in Bewegung und im Austausch mit den klugen Köpfen seiner Zeit. Der junge Hölderlin sprang von einer Verliebtheit zur nächsten, bis ihn die unglückliche Liebe zur Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard packte, die 1802 verstarb. Hölderlin verewigte sie in Gedichten und im Roman „Hyperion“ als unsterbliche Diotima.
Die letzten 36 Lebensjahre des Dichters können in Safanskis Buch natürlich weniger umfänglich beschrieben werden als die prallen ersten. Dazu gibt es weit weniger Material. Denn nachdem Hölderlin ins Fadenkreuz staatlicher Ermittlungen geraten war und der Kassensturz seines letztlich kaum erfolgreichen Dichterlebens den geistigen Zusammenbruch zur Folge hatte, kam er 1806 in die Psychiatrie und danach bis zu seinem Tod 1843 ins legendäre Tübinger Turmzimmer. Safranski schildert, wie der Dichter dort über drei Jahrzehnte bei einer ihm zugeneigten Handwerkerfamilie Kost und Logis erhält.
Unwillkürlich erinnert man sich an den Titel des herrlichen Gedichts von 1804 mit den gelben Birnen und den wilden Rosen. Es heißt „Hälfte des Lebens“ und mündet in der Klage: „Weh mir, wo nehm ich, wenn / es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein?“ und schließlich, fast expressionistisch schroff, in: „Die Mauern stehn / sprachlos und kalt, im Winde / klirren die Fahnen.“ Als ob der Dichter auch sein eigenes Los schon Jahre zuvor vor Augen gehabt hätte. Nach den ersten Anfällen von Raserei sei Hölderlin im Turm langsam friedlich geworden, schildert es Safranski. Er habe keineswegs nur vor sich hingedämmert, wie die gängige Rezeption behauptet, sondern sei wach und unablässig mit sich redend gewesen. Und er habe durchaus Besuch empfangen und viel geschrieben. Safranski macht dabei eine neue Rechnung auf: Hätte Hölderlins herrische Mutter ihren Sohn ausgezahlt, so wäre sein Leben anders verlaufen. Er hätte sich nicht ewig als Hauslehrer verdingen müssen. Er hätte frei dichten können und vielleicht nicht irgendwann in sich selbst verschwinden müssen.
Wichtig, dass Safranski auch mit dem gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beliebten Missbrauch Hölderlins als angeblich nationalistischer Dichter aufräumt. 100.000 Wehrmachtsoldaten trugen schließlich im Zweiten Weltkrieg sein Gedicht „Tod fürs Vaterland“ im Tornister, um an der Ostfront verheizt zu werden. Safranski zeigt schlüssig, dass die heute befremdlichen Verse 1799 im Eindruck der Französischen Revolution mit Anklängen an die „Marseillaise“ als ausdrücklich republikanisches Kampflied geschrieben wurden. Es ging Hölderlin um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und nicht um Rassenhass und Völkermord. Ein entscheidender Unterschied.
Im Handel erhältlich: Rüdiger Safranski: „Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund!“. Carl Hanser Verlag, München. 336 Seiten, 28 Euro.
Foto: Buchcover
Erschienen am 7. März 2020 im General-Anzeiger Bonn, Journal
500 Jahre Raffael: "Der dritte Mann" der Renaissance
Als die drei großen Maler dieser Epoche gelten Leonardo, Michelangelo und Raffael. Vor 500 Jahren, am 6. April 1520, starb der jüngste, Raffael Sanzio, unerwartet in Rom
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Es ist ein zarter Jüngling mit sinnlichen Lippen und braunen Locken, der den Betrachter auf diesem Gemälde von 1508 über seine Schulter hinweg anblickt. Gemalt hat das Brustbild des bleichen Jungen Raffael Sanzio aus Urbino, der „großartigste, genialste und beste Maler, der seit der Wiedergeburt der Schönen Künste erschienen ist“, wie es die Encyclopedia Britannica von 1798 vollmundig verzeichnet. Am Karfreitag 1483 war dieser große Renaissance-Künstler im italienischen Städtchen als Sohn eines kleinen Kunstmalers geboren worden. Am Karfreitag 1520, also vor genau 500 Jahren, sollte die rasante Karriere des jungen Sanzio, den bald alle nur Raffael nannten, mit seinem plötzlichen Tod schon zu Ende sein. Auf diesem in den Uffizien in Florenz hängenden berühmten Bild von 1508 hatte er sich einmal in seiner Laufbahn auf einem Einzelgemälde selbst verewigt.
Da war der „genialste und beste Maler“ auch äußerlich sicher längst kein androgyner Jüngling mehr, sondern ein ehrgeiziger 25-Jähriger, den es über die Station Florenz nach Rom zu den mächtigsten und reichsten Auftraggebern der Zeit zog. Raffael war nach dem Tod der Eltern erst in Urbino, dann in größeren Städten an eine satte Anzahl attraktiver Auftragsarbeiten gekommen und hatte sich profiliert: mit innigen Madonnen- und anrührenden Kreuzigungsbildern, mit klug komponierten Altarbildern und für die reichen Geldgeber höchst attraktiven Portraittafeln. An den Werken der römischen Antike wollte er sich zeit seines Lebens messen. Er studierte überaus genau den menschlichen Körper. In seiner gestochen scharf gemalten „Grablegung Christi“ von 1507 bahnte sich dann auch in den Augen der kunstsinnigen Mäzene der radikale Stilwandel und damit der entscheidende Durchbruch des jungen Genies an, wie es der Renaissance-Spezialist Ulrich Pfisterer in seinem voluminösen Raffael-Jubiläumsbuch herausarbeitet.
Der Jungmaler hatte also seine Handschrift gefunden. Er war bereit zum Absprung in das päpstliche Rom, damals unbestritten das künstlerische und kulturelle Zentrum der Welt. Dafür benötigte er nur noch eine Eintrittskarte. So kreierte der 25-Jährige den damals noch ungewohnten Bildtypus des inszenierten Selbstportraits: Er wollte als frühbegabter Künstler erscheinen, der den Betrachter einnehmend anblickt, wie Pfisterer, Professor an der Ludwig-Maximilians Universität München, in seinem Jubiläumsband überzeugend argumentiert. Wissbegierig hatte das ehrgeizige Jungtalent schon die Karrieren der beiden älteren Künstlergenies seiner Zeit, den in Rom Erfolge feiernden Michelangelo Buonarroti (1475-1564) und den erst 1513 an den Tiber wechselnden großen Leonardo da Vinci (1452-1519), verfolgt.
Michelangelo, der Raffael anfangs mit Wohlwollen förderte, aber ihn wegen des kometenhaften Aufstiegs bald als unangenehmen Konkurrenten kritisieren sollte, hatte sich in Rom eher als genialer Einzelgänger geriert. Nun kam also ein verbindlich auftretender Jungmaler in den Apostolischen Palast und inszenierte sich bewusst mit einem lyrischen Männerportrait als Werbebild. Mit dem Ziel der Renaissance, die Antike und ihre Kunst wieder lebendig werden zu machen, meinte auch er es ernst. Alsbald erhielt er attraktive Aufträge: etwa die Stanzen, also päpstliche Räumlichkeiten, auszumalen. Auf dem hier 1510 bis 1511 auf die Wände gemalten berühmten Fresko „Schule von Athen“ verewigte sich dieser Neuankömmling noch einmal selbst, und zwar mit einem dem Bild von 1508 ähnlichen Selbstportrait. Auch dieser Raffael am rechten Rand des Monumentalwerks schaut den Betrachter direkt an: wiederum mit weichen, schönen Gesichtszügen, aber denen eines nun reiferen jungen Mannes.
Der Sohn eines kleinen Malers aus dem unbedeutenden Urbino hat also in kürzester Zeit im Palast von Papst Julius II. Fuß gefasst. Er darf die großen Repräsentationssäle auf dem Weg zur Sixtinischen Kapelle, deren Decke Michelangelo zeitgleich mit Szenen seiner berühmten Genesis unsterblich macht, mit monumentalen Fresken ausmalen. Der Papst ist entzückt von der Arbeit des jungen Mannes und dessen Künstlerwerkstatt, die Raffael als geschickter Stratege inzwischen um sich gesammelt hat. Bis ins letzte Detail sind die auf riesige Flächen aufgetragenen Figurenkompositionen geplant und in Zeichnungen vorbereitet. Der junge Mann aus Urbino hat sich geschickt mit den Cheftheologen des Papsthofes über die Details der gewünschten Szenen verständigt. Er kann umwerfend malen, er kann organisieren, hält zeit seines Lebens fast jeden Zeitplan ein, er ist von gewinnendem Wesen und kann sich bald vor Aufträgen nicht mehr retten. Was will er mehr?
Isabella d`Este, einer der bedeutenden Kunstförderinnen der Zeit, wird schon 1511 aus Rom nach Mantua gemeldet, dass der Papst wunderschöne Säle „von einem gewissen Raffael, der in Rom großen Ruf als guter Maler genießt“, gezaubert bekommen habe. Kurz darauf beweist sich der für diese sakralen Werke Gelobte in der Villa Farnesina in Rom an lustvoll erotischen Fresken mit Motiven der Antike. Er bewältigt auch das mit seinem Stab junger Künstler zur vollständigen Zufriedenheit seiner begüterten Klientel. Der einstige Vollwaise kann sich bald in Rom einen Palast kaufen. Die Qualität seiner Werke ist herausragend. Die Geldquellen werden weiter sprudeln. Mit dem neuen Papst Leo X. wird er einen weiteren potenten Auftraggeber begeistern. Raffael portraitiert Päpste, Kardinäle, Gesandte und Humanisten. Er ist den wichtigsten Vertretern der Macht im Vatikan nah, auch wenn der Künstlerkollege Michelangelo inzwischen ätzt, der Jüngere habe ja nur seinen Malstil aus der Sixtinischen Kapelle kopiert.
Der Renaissance-Experte Ulrich Pfisterer verleiht in seinem kundigen Raffael-Jubiläumsbuch im Wettstreit der Maler schließlich drei Kronen. Leonardo und Michelangelo sei die Auszeichnung selbstverständlich nicht zu nehmen, doch Raffael mit seiner in jeder Hinsicht erstaunlicher Karriere eines vergleichsweise kurzen Malerlebens gebühre ebenfalls der Aufstieg zum „dritten Mann“ der Hochrenaissance-Kunst. Womit er dem Urteil des ersten Raffael-Biografen Paolo Giovio von 1528 entspricht, der den jung Verstorbenen „aufgrund der wunderbar angenehmen Wirkweise und Kunstfertigkeit seines lernbegierig veranlagten Geistes“ bei seiner Maler-Olympiade den dritten Platz sicherte.
Der in der Kunstgeschichte weitaus folgenreicheren Lebensbeschreibung Raffaels durch Giorgio Vasari von 1550 will Pfisterer jedoch, anders als andere Interpreten, nicht folgen: Die Kunst des schon mit 37 Jahren plötzlich Verstorbenen sei mehr wert gewesen, als nur die Kontrastfolie zum Werk Michelangelos zu bieten. Der Mann aus Urbino sei mit seiner universalen Begabung auch als Dichter, Antiquar und Architekt zurecht als „göttlicher Künstler“ geehrt worden, wie ihn seine Fangemeinde bis ins 19. Jahrhundert hinein feierte. Papst Leo X. hatte Raffael 1514 mit der Leitung des Peterskirchen-Bauprojekts betraut, nachdem der berühmte Vorgänger Donato Bramante verstoben war.
Welche Fußspuren hat also der auf seinem Selbstbildnis so bleiche schöne Jüngling hinterlassen, die auch 500 Jahre nach seinem Tod noch in der Kunstgeschichte sichtbar sind? Und weiter gefragt: Wo ist der Raffael der Hochrenaissance heute noch aktuell? Ein Blick in die wichtigste Kunstschau Italiens in diesem Jahr, in die spektakuläre Raffael-Gesamtschau im Quirinalspalast in Rom mit berühmten Leihgaben aus Florenz und Paris, zeigt zum Beispiel erstmals die wegweisenden Portraits der Päpste Julius II. und Leo X. gemeinsam. Es sind auch aus der Sicht von heute, da der Selbstdarstellung keine Grenzen mehr gesetzt erscheinen, höchst eindrucksvolle Bilder einer Zeit, in der ganz Rom zusammenlief, um diese lebensnahen Physiognomien in minutiös gemaltem, die Stellung unterstreichendem Ornat zu betrachten.
Die Ausstellung in Rom zeigt einige von Raffaels bekanntesten Frauenbildnisse: etwa die sanfte „Dame mit Einhorn“ von 1505, da war er gerade 22 Jahre jung gewesen, die schon gereifter gemalte „Madonna d'Alba“ in Rundform, die sonst in Washington hängt, oder die liebliche „Rosenmadonna“ aus Madrid und die „Madonna der Göttlichen Liebe“ aus Neapel. Es sind auch berühmte private Bildnisse des Mannes gehängt, von dem schon die Encyclopedia Britannica von 1798 berichtete, seine angeblich größte Leidenschaft seien die Frauen gewesen: die „Dame mit Schleier“ von 1512/13, die „Junge Frau“ von 1518 oder die als Venus dargestellte „Fornarina“, die Bäckerin, von 1520, von der gesagt wird, das Modell sei wohl die letzte Geliebte des Meisters gewesen. Raffael habe mit seinen Frauenbildnissen eine neue, ideale Weiblichkeit kreiert, heißt es in der Kunstgeschichte. Hier blickt man nicht in formelhafte, austauschbare Mienen, wie sie ganze Künstlergenerationen zuvor malten, sondern in Gesichter mit Emotion, Persönlichkeit und Ausdruck.
Wobei natürlich in der großen Schau von Rom auch die über die fünf Jahrhunderte meist gesehenen Werke fehlen müssen: die zahlreichen riesigen Fresken in den päpstlichen Gemächern oder die vielen Altarbilder in Kirchen etwa, aber auch die herrlichen Wandteppiche, die Raffael für die Sixtinische Kapelle entworfen hat. Es fehlt, aus deutscher Sicht betrachtet, die Sixtinische Madonna, jenes Monumentalbild, das der sächsische Fürst August III. 1754 für eine Unsumme Geldes nach Dresden holen ließ. Es ist jene monumentale Maria mit dem Kinde also, die nicht sitzt und sich betrachten lässt, sondern die auf den Betrachter direkt zuzuschreiten scheint und damit einen vormals eher ruhigen Bildtypus in Bewegung bringt. Wissenschaftler stellten fest, dass ihre Gesichtszüge einem Idealbild des Menschen entsprechen.
Für die Romantiker in der Mitte des 19. Jahrhundert, die in England sogar eine Gruppe der Präraffaeliten gründeten, stellte die Sixtinische Madonna den Inbegriff des Andachtsbildes dar. Er erlebe in der Galerie Alter Meister aber auch heute noch Besucher, die vor der Madonna niederknieten, sagt dazu der Dresdener Museumsdirektor Stephan Koja. Und die beiden Engel, die am unteren Bildrand keck, schelmisch und versonnen den Betrachter anschauen, sind sichtbar Abbilder realer Kleinkinder. Sie werden heute noch auf allen nur möglichen Gegenständen und Souvenirs millionenfach reproduziert.
Raffael ist also noch heute aktuell. Ulrich Pfisterer streicht als ausgewiesener Kenner der Kunst Italiens Raffaels „visionäres Sehen“ heraus, die Kunst, einen Ausnahmezustand erregter Ergriffenheit zeitlos auf die Leinwand oder auf eine riesige Freskenwand zu bannen.
Raffael habe zudem in seinen in ihrer Größe höchst schwierigen Ausmalungen ganzer Säle eine unerhörte perspektivische Perfektion bewiesen, ein meisterliches Jonglieren mit allen Tricks eines sich der Architektur der Säle bewussten Monumentalmalers. Pfisterer schildert an den einzelnen Werken, wie zielgerichtet Raffael über erste zeichnerische Entwürfe zu weiteren Vorstufen und Korrekturen bis zum fertigen Fresko arbeitete, wie geschickt er über die nötigen Gelder verhandelte und wie clever er seine wachsende Werkstatt einzusetzen imstande war. Nur 45 Tagwerke soll Raffael für seine riesige „Schule von Athen“ benötigt haben, nur 75 für die ebenso berühmte „Disputà“ in den Vatikanischen Museen. Der Mann war ein Macher.
Raffael habe sich seine schon zu Lebzeiten erstaunliche Stellung durch seine außerordentliche Begabung hart erarbeitet und sich im Vergleich mit der großen Konkurrenz seiner Zeit eine eigene Handschrift erworben. Gut zwanzig Jahre kreative Künstlertätigkeit waren dem Mann aus Urbino beschieden, bevor er nach aus immer noch nicht geklärten Umständen plötzlich starb. Immerhin hatte er da schon geregelt, mitten im Rom im Pantheon bestattet zu werden. Die Freunde sorgten vor genau 500 Jahren für den geeigneten Spruch auf dem Grabmal: „Dieser hier ist Raffael. Als er lebte, fürchtete die Natur, von ihm übertroffen zu werden, und als er starb, mit ihm zu sterben.“
Literaturtipp: Ulrich Pfisterer, Raffael. Glaube, Liebe, Ruhm, Verlag C.H. Beck 2019, 58 Euro
Foto: Buchcover
Erschienen am 4. April 2020 im General-Anzeiger Bonn, Journal
Missbrauch: "Zu richten die Lebenden und die Toten"
Patrick Bauer ist Seelsorger des Erzbistums Köln und Sprecher des dortigen Beirats für Missbrauchsbetroffene. Vor seiner eigenen Schule versagt ihm jedoch die Stimme
Erschienen am 20. Juli 2019 im General-Anzeiger Bonn und am 25. August 2019 in der Rheinischen Post
https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/bad-godesberg/betroffener-schildert-missbrauch-am-aloisiuskolleg_aid-44340391
https://rp-online.de/nrw/staedte/koeln/koeln-seelsorger-des-erzbistums-ueber-missbrauch-am-aloisiuskolleg-bonn_aid-45320321
Foto: Ebba Hagenberg-Miliu
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Ebba Hagenberg-Miliu, Journalistin (DJV), Buchautorin
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